Die Konsumgenossenschaft im Roten Nowawes

Das Genossenschaftswesen bzw. die Konsumgenossenschaften sind in den meisten Ländern Europas als ein Ergebnis der Industrialisierung und aus der sozialen Situation der Arbeiter*innenbewegung heraus entstanden. Wie auch in Nowawes gab es in den Ballungszentren der Industrie einen enormen Zuzug von Arbeiter*innen und Familien, die in den Fabriken auf Arbeit und damit auch auf ein besseres Leben hofften. Im Osten des Landes zogen viele aus Schlesien, Pommern, Posen und anderen ländlichen geprägten Regionen westwärts in die Städte. Auch wenn sie der Armut entfliehen wollten, so stellte die Situation in den Städten oftmals keineswegs eine Verbesserung dar. Die Arbeitsverhältnisse waren ebenso prekär wie auf dem Land, Wohnungen oftmals eine Mangelware oder unter beengten und unhygienischen Bedingungen und die Versorgung mit Lebensmitteln je nach Arbeitslage und Geschäften, bei denen sie auch Anschreiben oder Kredite bekommen konnten, abhängig.

In dieser Situation begann die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen, um ihre Versorgungslage zu verbessern. Dazu wurden Konsumgenossenschaften gegründet, in der die Arbeiter*innen Mitglied werden konnten, gleiches Stimmrecht hatten, unabhängig von der Höhe der Einzahlung und vor allem Grundwaren zu einem fairen Preis erwerben konnten, ohne auf den teilweise vorhandenen Betrug durch ungenaues Wiegen und den Verkauf verdorbener oder minderwertiger Ware der Geschäftsinhaber*innen angewiesen zu sein. Nicht die Gewinnmaximierung war das Ziel der Konsumgenossenschaft, sondern die gleichberechtigte förderliche Entwicklung der Genossenschaft, die vor allem im Einkauf von Lebensmitteln und in der Versorgung eben jener bestand.

Dazu heißt es auch in der Festschrift des Potsdamer Volksblattes in einem Artikel „Unser Streben zur Gemeinwirtschaft“ über die Konsumgenossenschaft „Hoffnung“ aus dem Jahr 1931: „Der Zweck der Konsumgenossenschaftsbewegung ist, die Verbraucherfamilien zum gemeinsamen Wareneinkauf zusammenzuschließen und sie teilnehmen zu lassen an den Vorteilen konsumgenossenschaftlicher Bedarfsdeckungswirtschaft. Zwischen den Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften besteht ein inniges Verhältnis insoweit, als die Gewerkschaften die Lage der Arbeiterklasse durch bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu heben versuchen, während auf der anderen Seite die Konsumgenossenschaften durch Abgabe guter und preiswerter Ware zu den billigsten Tagespreisen versuchen, die Kaufkraft des Arbeitslohnes zu heben.“

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben linksliberale und sozialreformerische Politiker, wie der in Delitzsch geborene, aber in Potsdam im Jahr 1883 verstorbene Hermann Schulze-Delitzsch oder der auch vom Nachnamen bekannte Friedrich Wilhelm Raiffeisen, die Gründung des Genossenschaftswesens voran. Ihre Aktivitäten führten zur Gründung eines im Jahr 1867 erlassenen preußischen Genossenschaftsgesetz. Im Übrigen findet sich das Grab von Hermann Schulze-Delitzsch auf dem Alten Friedhof in Potsdam. Ein deutschlandweites Genossenschaftsgesetz, das seit dem Jahr 1889 bestand hatte, erlebte er nicht mehr. In Dresden trafen sich im Mai 1903 die Abgesandten von 302 Konsumgenossenschaften um hier den „Zentralverband deutscher Konsumvereine” zu gründen. Zu diesem Zeitpunkt konnte bereits auch der Ort Nowawes mit einem Konsumverein aufwarten.

Dabei wurden die Gründungen von Konsumgenossenschaften nicht nur von der preußischen Obrigkeit mit Misstrauen beobachtet, schließlich stand eine Selbstorganisierung der Arbeiter*innen dem zentralistischen Charakter eines Preußens fern, sondern auch die SPD beäugte die Konsumvereine misstrauisch. So galten die Konsumvereine als reformistisch in der damaligen „marxistischen“ Partei. Auf Reichsebene nahm die SPD bei dem Berliner Parteitag im Jahr 1892 eine Resolution an, die sich deutlich von den Konsumvereinen distanzierte. Erst später, zur Jahrhundertwende, näherte man sich der Basis wieder an. (vgl. Unser schönes rotes Luckenwalde, S. 112) Unterdessen wuchsen die Konsumvereine enorm, in Brandenburg von 10 im Jahr 1863, 37 im Jahr 1874 auf 73 im Jahr 1900. (vgl. Brot und Dividende: Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, S. 239)

In Nowawes entstand der erste Konsumverein am 10. März 1902, als 76 Werktätige, vorwiegend Arbeiter, auf der Gründungsversammlung die Statuten des „Konsumvereins Nowawes-Neuendorf eGmbH“ unterschrieben. Dabei war das Gewerkschaftskartell Nowawes, in dem vor allem die Mehrheit der Textilarbeiter*innen, Tischler, Bauleute und Metallarbeiter der aufstrebenden Industierstadt organisiert waren, ein wesentlicher Initiator dieser sozialen Selbstversorgungseinrichtung des Arbeiter*innenmilieus.

Bemerkenswert ist, dass die Gründer der Konsumgenossenschaft – so wie der schon existierende sozialdemokratische Wahlverein auch – beide noch selbstständigen Gemeindeteile nördlich (Nowawes) und südlich (Neuendorf) der Bahnlinie als Genossen*innen ansprachen. Zwar lebten zu dieser Zeit wesentlich mehr Arbeiter*innen auf der Nowaweser Flur, aber die zunehmende Industrialisierung und die Verfügbarkeit von Baugrund lagen ganz entschieden auf der Gemarkung in Neuendorf. Gerade diese lokale Situation wird in den nächsten Jahren dem Konsum auch neue Mitglieder*innen aber auch logistische Möglichkeiten bieten.

In den Gründungsstatuten des Konsums heißt es: „Gegenstand des Unternehmens ist der gemeinschaftliche Einkauf von Lebens- und Wirtschaftsbedürfnissen im Großen und Ablass im Kleinen an die Mitglieder.“ Unter den Anwesenden befanden sich auch die führenden Mitglieder des sozialdemokratischen Wahlvereins und Gemeindevertreter Karl Gruhl und Ernst Zöllner, die mit sieben anderen für drei Jahre in den Aufsichtsrat gewählt wurden. Die erste Verkaufsstelle wurde in der Wallstraße 62 (heutige Karl-Gruhl-Straße) – eigentlich ein Arbeiterlokal eröffnet. Die dort sehr beschränkten Lager- und Verkaufsmöglichkeiten führten dann zu deren Verlegung in die Priesterstraße 29 (heutige Karl-Liebknecht-Straße 34), mitten in das „Herz“ des Einkaufens in Nowawes. 1905 arbeitet in der dortigen Konsumverkaufsstelle auch der damalige Vorsitzende des sozialdemokratischen Wahlvereins und Gemeindevertreter Karl Gomoll als Lagerhalter.

Die Konsumgenossenschaft (KG) Nowawes entwickelte sich schnell, was der allgemeinen Situation und vor allem der Notlage der Arbeiter*innen geschuldet war. Schon zum Ende des Jahres 1905 durfte man darauf verweisen, dass die Mitgliederzahl von 551 auf 610 innerhalb eines Jahres gestiegen war und sich der jährliche Warenumsatz auf 155.000 Mark belief. Und dies trotz des 15wöchigen Textilarbeiterstreiks, der dazu führte, dass die Genoss*innen um die 200 Mark weniger einkaufen konnten. Dennoch konnte ein Reingewinn von 11.427 Mark ausgewiesen werden, der es der Genossenschaft ermöglichte, 6% Rückerstattungsdividende an die Mitglieder auszuschütten. Auch eine Mitglieder-Sparkasse mit 3%iger Verzinsung der Anlagen wird gegründet. Die Mitgliederversammlung entscheidet nunmehr auch, dem Zentralverband deutscher Konsumvereine beizutreten. Um noch mehr Mitglieder, v.a. unter den örtlichen Gewerkschafter*innen zu gewinnen, erwarb der Vorstand eine große Anzahl der Broschüre „Was bietet der Konsumverein der Arbeiterfrau“ von Gertrud David (1872 – 1936) und verteilte diese unter der Arbeiter*innenschaft.

Im September 1910 wurde eine von den KG Nowawes und „Hoffnung“ Potsdam gemeinsam finanzierte Bäckerei, die 50.000 Mark kostete (davon brachten alleine die Mitglieder 15.000 Mark selbst auf), als erster konsumgenossenschaftlicher Produktionsbetrieb unseres Gebietes in der heutigen Fultonstraße (damals Blücherstraße 6) in Betrieb genommen. Hier konnten 1200 bis 1500 Brote und Frühstücksware gebacken werden. Die neue Bäckerei war auch mit einer Bad- und Frühstücksstube für das Personal ausgestattet. Dieses erste gemeinsame Investitionsprojekt der Nowaweser und Potsdamer Konsumgenossenschaften machte deutlich, dass ein gemeinsames Agieren erfolgreicher ist, als ein getrenntes Nebeneinander.

Im April 1912 umfasste die Nowaweser Konsumgenossenschaft bereits 1276 Mitglieder, die ihre Lebensmittel aus sechs Verkaufsstellen

in Nowawes

– Priesterstr. 29

– Wilhelmstr. 60 (Alt Nowawes)

– Ziethenstr. 16 (Siemensstr.)

in Drewitz

– Sternstr. 10

in Michendorf

– Saarmunder Str. 25

in Wannsee

– Chausseestr. 13

bezogen.

Wegen dieser Ausdehnung änderte man 1910 die Firmierung in „Konsumverein für Nowawes und Umgebung“. Zuvor hatten in der Kolonie Daheim bei Potsdam die dort wohnenden Eisenbahner Anfang 1901 den ebenfalls proletarisch geprägten „Konsumverein für Potsdam und Umgebung“ gebildet. Bis zu seiner Übernahme im Jahre 1928 in die „Konsumgenossenschaft ‚Hoffnung‘ für Potsdam und Umgebung“ hatte er nie mehr als eine Verkaufsstelle.

Die Potsdam Konsumgenossenschaft „Hoffnung“ wurde am 31. Juli 1904, also 2 Jahre nach der Nowawes-Neuendorfer Gründung, von 22 Mitgliedern gegründet und konnte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten rasch vergrößern, wenn auch das proletarische Milieu wesentlich kleiner war, als das der Arbeiter*innenstadt auf dem anderen Ufer der Havel. Dennoch kam es 1912 zu einer bemerkenswerten Entwicklung, die so gar nicht dem Gewicht gerade dieser Arbeiter*innenkonzentration entsprach: Management- und Finanzierungsprobleme im Nowaweser Konsum führten letztendlich zu der „Fusion“ der Nowaweser und Potsdamer Genossenschaften, die jedoch letztlich auf den Beitritt der Nowaweser Genoss*innen zum Potsdamer Konsum hinauslief. Die Nowaweser Konsumgenossenschaft wurde daraufhin liquidiert, die gesamte Lager-, Produktions- und Verkaufsinfrastruktur übernahmen die „Potsdamer“. Dieser Vorgang ist insofern einmalig in der Geschichte beider Städte bis 1939, da – wenn sie nicht überhaupt eigenständig blieben – Nowaweser Arbeiter*innenorganisationen eher die Potsdamer bei sich aufnahmen, denn umgekehrt.

Im Jahre 1912, bei der Vereinigung mit der Nowaweser KG, hatte der Potsdamer Konsum 1600 Mitglieder in sechs Verkaufsstellen (in Potsdam, Bornstedt, Caputh, Werder und GIindow). Der Umsatz steigerte sich von 41 593,54 M (im Geschäftsjahr 1904/05) auf 32 7314,35 M (1910/11). Bis 1914 konnte die Anzahl der Verkaufsstellen auf 15 erhöht werden.

Weitere Umsatzsteigerungen ermöglichten den Ankauf eines Baugeländes in der damaligen Husarenstraße und den dortigen Neubau eines Zentrallagers, einer Verkaufsstelle sowie eines Verwaltungs- und Wohngebäudes auf einem Grundstück von 9200 qm in den Jahren 1913/14 in der Katzbachstraße (heute Konsumhof). Die Konsumgenossenschaft hatte nun hier ihren Sitz in Nowawes. Bei der Errichtung des Konsumhofgebäudes kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen dem jungen 22jährigen (!) Architekten Arno Neumann – Sohn von Paul Neumann – und dem Architekten Georg Muschner über die Urheberrechte der Bauunterlagen. Nunmehr gehörten der Genossenschaft 2860 Mitglieder an und der Umsatz belief sich auf 426.700 Mark.

Verwaltungsgebäude, erbaut zwischen 1913/14 (Ecke Konsumhof/ Fritz-Zubeil-Str.)

Zwar kam es im Zuge des Ersten Weltkrieges zu Stagnation und Rückschlägen, so konnten keine neuen Verkaufsstellen eröffnet werden und das zentrale Lager wurde zur Hälfte vermietet, doch im Allgemeinen war der Konsumverein eine Erfolgsgeschichte. Bis zum Jahre 1930 wuchs die Mitgliederzahl auf 12.000 und der Umsatz betrug rund 4,5 Millionen Mark. Bald schon erwies sich die Bäckerei in der Blücherstraße nach der Inflationszeit als viel zu klein und im Jahr 1927 errichtete die KG ,,Hoffnung“ eine moderne Bäckerei auf dem Gelände der Katzbachstraße. Aus der alten Bäckerei baute man eine Genossenschaftsschlachterei um. Zudem entstanden eine Kaffeerösterei und eine Selterwasser- und Limonadenfabrik, die im Zentrallager in der Katzbachstraße untergebracht waren.

Zentrallager der Konsumgenossenschaft, erbaut 1914/15 (heute Konsumhof)

Wie wichtig die Konsumgenossenschaft für sie soziale Lage der Bevölkerung war, unterstreicht der oben erwähnte Artikel „Unser Streben zur Gemeinwirtschaft“ über die Konsumgenossenschaft „Hoffnung“: „Der Beitritt zur Konsumgenossenschaft ist jedem sehr leicht gemacht. Als Eintrittsgeld werden nur 50 Pfennige erhoben, während der Geschäftsanteil, der 50 Mark beträgt, nach und nach von der Rückvergütung in Abzug gebracht wird. Im letzten Jahr hat die Konsumgenossenschaft `Hoffnung´ zirka 180.000 Mark Rückvergütung an ihre Mitglieder zur Verteilung gebracht. Da die Auszahlung im Dezember jedes Jahres erfolgt, waren viele Mitglieder in der Lage, ihren Winterbedarf an Kohlen, Kartoffeln und dergleichen von der erhaltenen Rückvergütung einzudecken.“

Bis 1931 erweiterte sich die Anzahl der Verkaufsstellen der KG „Hoffnung“ auf 51, davon waren 11 Schlachtereien. Laut dem Buch der Stadt Nowawes aus dem Jahr 1930 unterhält die Genossenschaft einen ausgedehnten Fuhrpark und besitzt 24 eigene Grundstücke, von denen fünf in Nowawes liegen. Von diesen Erfolgen berauscht, schreiben Potsdamer Genossenschafter 1931 in der Festausgabe des „Potsdamer Volksblattes“: „Wie oft haben Stürme an dem stolzen Baum (der KG ‚Hoffnung‘) gerüttelt, ihn aber nie zu erschüttern vermocht, denn die Grundpfeiler sitzen tief und fest. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Konsumgenossenschaftsbewegung sind unbegrenzt…“

Die Straße Konsumhof im heutigen Babelsberg erinnert mit dem Namen seit 1950 an die Geschichte der Zentrale des Genossenschaftswesens im ehemaligen Roten Nowawes.

Verkaufsstellen in den Jahren 1925 – 1933 in Nowawes

Blücherstraße 6 (Fultonstr.) Sie befindet sich im Eigentum der Genossenschaft, auch noch nach 1945.

Goethestraße 41 Hier wohnt 1927 auch die Witwe und engagierte Sozialdemokratin Alwine Gruhl.

Katzbachstraße 1 (Konsumhof) Sie befindet sich im Eigentum der Genossenschaft, auch noch nach 1945.

Lindenstr. 48 (Rudolf-Breitscheid-Str. 36) 1927 ist hier der Sozialdemokrat Richard Bathe Lagerhalter.

Priesterstraße 4/5 (Karl-Liebknecht. Str 9/10) Sie befindet sich im Eigentum der Genossenschaft.

Priesterstraße 29 (Karl-Liebknecht-Str. 34)

Schützendamm 20 (Paul-Neumann-Str.) Sie befindet sich im Eigentum der Genossenschaft, auch noch nach 1945.

Wilhelmstraße 44/46

Wilhelmstr. 60

Ziethenstraße 18 (Siemensstr.) Sie befindet sich im Eigentum der Genossenschaft, auch noch nach 1945.

Quellen:

Das Buch der Stadt Nowawes, S. 98-100

Die Konsumgenossenschaften in Nowawes und Potsdam, S. 11-15

Unser schönes rotes Luckenwalde, S. 112

Brot und Dividende: Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, S. 239

Zeitung Potsdamer Volksblatt, Artikel „Unser Streben zur Gemeinwirtschaft“, 29./30.08.1931

Zeitung Vorwärts, laufende Nummern

Konsum im Schützendamm (heute Paul-Neumann-Str.) Quelle: Gruß aus Potsdam
Ehemaliger Konsum in der Goethestr. 41