Als Geschichtswerkstatt Rotes Nowawes wollen wir hin und wieder historische Artikel und Berichte veröffentlichen, die sich mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation in Nowawes oder auch mit der Erinnerungsarbeit auseinandersetzen. So veröffentlichten wir im letzten Jahr den Artikel „Aus der Heimatgeschichte – Vom Erinnern und der Geschichtswissenschaft“, der sich mit dem Mythos des Roten Nowawes im Kontext der DDR-Geschichte beschäftigt.
Nun veröffentlichen wir einen Artikel aus der Beilage der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts vom 26.02.1933, also heute vor genau 90 Jahren, in welchem die sozioökonomische Lage der Weber:innen und der Textilindustrie in Nowawes betrachtet wird.
Anbei der Artikel:
AM WEBSTUHL DER ZEIT
Es wäre ihnen immer so leidlich gegangen, meinten die Weber von Nowawes, allzuviel hätten sie allerdings nie in die Milch zu brocken gehabt, aber jetzt sei es doch wie abgeschnitten. Nicht die ältesten Leute können sich erinnern, jemals solche Jammerzeit durchgemacht zu haben wie heute. „Gut. Aber jeder Städter stellt sich doch unter einem Weber erstmal einen bitterarmen Mann vor, man denke nur an Gerhart Hauptmanns „Weber“?“ „Diese Meinung über uns Weber kennen wir“ antwortete der Geschäftsführer der Filiale Nowawes des Deutschen Textilarbeiter-Verbandes. Ein Zufall hat es gefügt, dass sich das schlichte Büro in dem gleichen alten Weberhause befindet, in dem er als junger Mann noch am Webstuhl gesessen hat.„ Aber – fährt er fort – unsere Kollegen von Langenbielau und Petersmaldau hatten es wohl auch besonders schlecht, bei uns war es so: man konnte auf Jacquard-Muster mitunter 50 Mk. in der Woche verdienen und dann saß man auch wieder mit 12 Mk. in der Woche da. Manchmal rissen sich die Fabrikanten um uns und einer bot immer 10 Pf. mehr an Lohn für den Meter Stoff, ein andermal konnten wir uns die Hacken ablaufen und bekamen nicht einen Meter Arbeit. Es war ein ständiges Auf und Ab, aber heute geht es ja nur bergab.“
Es war einmal
Da wir gerade bei den alten Zeiten sind: Nowawes ist noch sehr jung, eine seit 1752 bestehende Siedlung wegen ihres Glaubens vertriebener Weber aus Böhmen. In der Tschechoslowakei gibt es noch ein Nowawes: manchmal verlaufen sich deshalb die Briefe, sie fahren dann erst im Böhmerwald spazieren, ehe sie nach Nowawes bei Berlin zurückfinden. Von diesen alten Weberhäusern stehen noch genug. In der Mitte war die Haustür und rechts wohnte eine Weberfamilie und links eine. Jede hatte zwei Stuben, eine große nach der Straße, da stand der Webstuhl und eine kleine nach dem Hof, da schlief der Weber und die Weberin. Die Kinder schliefen neben dem Webstuhl auf der Erde – das war so Mode, sagten dieser Tage die alten Weber – und in der Dachkammer schliefen die Gesellen. Durch die Dächer schienen Sonne, Mond und Sterne. „Als ich noch Geselle war, damals in den neunziger Jahren – erzählt unser Gewährsmann – da war ich eines Morgens vollkommen eingeschneit. Ich musste erst den Schnee vom Bett fegen, so hatte es in meine Kammer geschneit. Manchmal waren bei uns in Nowawes bis zu 800 fremde Gesellen, meist aus Schlesien. Die Leute waren dann für 2,50 Mark in der Woche bei unseren Meistern in halber Kost und Logis. Also schlafen auf dem Dach oder besser gesagt unter dem Dach, morgens Kaffee und Schrippen und Mittagbrot. An Lohn gab es zwei Drittel vom Gesamtlohn, den der Meister erzielte. Ein Drittel bekam der Meister für Stuhl und Haus. Das Fertigprodukt ging nach Berlin an die Fabrikanten. Wieviel Tuch wir damals geschafft haben? Nun, ein Hausweber macht etwa 6 Meter Tuch pro Tag: ein ganzes Stück ist immer 36 Meter lang, so dass man an einem Stück immer eine Woche zu tun hatte. Dazu kommen allerdings noch umfangreiche Vorrichtungsarbeiten. Der alte Kollege Schröder sitzt heute noch an seinem Webstuhl, er schafft mit seinen 71 Jahren noch vier Meter Krimmer je Tag. (Krimmer ist eigentlich das Fell neugeborener Lämmer aus der Krim, heute eine Plüschart mit Locken und Kräuseln als Pelzersatz.) Je Meter erhält der alte Herr von seinem Fabrikanten aus Berlin 72 Pf.“ 4 mal 72 sind 288 Kupferpfennige und das scheint selbst für einen 71 jährigen alten Herrn ein magerer Tagelohn zu sein, aber, sagt man, so hätte die Partie bis in die neunziger Jahre nicht gestanden. Sondern die Frage lautete so: wer hatte 50 Taler zur Hand, wer konnte mit zwei Mann die 14 Tage Vorbereitungsarbeit für neue Muster durchhalten, wer hatte 75 Mark für einen Jacquardstuhl und für Geschirr, Harnisch, Litzen und Blatt und allem anderen womöglich noch einmal 75 Mark dazu.
Wer das hatte, der konnte den Spitzenpreis der Mode abfangen und 50 Mark in der Woche einstreichen. Wer zu spät kam, erzielte dann nur noch 36 Mark und wer zuletzt aufstand gar nur 25 Mark in der Woche. Es muss damals ähnlich zugegangen sein wie heute bei der Jagd nach dem Spitzenpreis für Frühgemüse. Wer damals gar kein Geld hatte, der ging zum Pfarrer Koller, der pumpte dann 10 Taler als Einrichtungskredit. In den Wintermonaten war es dann mitunter sehr schmal; es musste mit 6 bis 9 Mark die ganze Familie durchgebracht werden. Und diese alten Hausweber bildeten den Gründerstamm des Deutschen Textilarbeiter-Verbandes.
Das Trümmerfeld
So wie alle hatte auch der alte Michaelis in der Priesterstraße angefangen. Gleich das Nachbarhaus neben dem Verband. Heute existiert noch die Teppichweberei Michaelis u. Behrendt mit 200 Arbeitern. Dazu noch eine Garngesellschaft mit 150 Beschäftigten, die Netzfabrik von Franz Klinder mit ebenfalls rund 150 Beschäftigten und dazu ein paar Kleinbetriebe. Das ist die ganze Textilherrlichkeit, die in Nowawes noch übriggeblieben ist. Und Nowawes hat es in 180 Jahren immerhin auf 29000 Einwohner gebracht. Die nur noch mit ostdeutschen Grenzstädten vergleichbare, aber doch wohl beispiellose Verlustliste der Textilindustrie von Nowawes sieht so aus:
einst Beschäftigte rund
Ad. Pitsch, Wollwarenfabrik 800 stillgelegt
Norddeutsche Kammgarnspinnerei (Lahusen) 700 „
Jute-Spinnerei u. Weberei 500 „
Seidenweberei Michels 200 „
K. Hozak, Teppichweberei 100 „
Dazu noch eine Reihe kleinerer Betriebe. Nirgends rührt sich mehr eine Hand, verlassen und verödet liegt das Fabrikenviertel von Nowawes da. Als erster machte Michels zu, das war noch während der Rheinland-Besatzung und hing damit zusammen. Da Michels Hoflieferant war, hatte er in Nowawes einen Musterbetrieb errichtet mit Speise- und Baderäumen. Heute werden dort Schallplatten fabriziert. Anfang 1926 machte die Jutespinnerei ihren Betrieb zu.
Diese Stilllegung, die mit Absatzschwierigkeiten gar nichts zu tun hatte, ist eines der trübsten Kapitel aus der Geschichte des Jutekapitals. Da sitzen im Jute-Kartell ein paar Magnaten und je nachdem es ihre Quotenkämpfe erfordern, beschließen sie eines Tages: das Werk Nowawes wird stillgelegt und 500 fleißige Männer und Frauen sitzen hungernd auf der Straße. Die Produktion wurde nach Meißen verlegt und jetzt ist das Meißner Jutewerk mit seinen 600 Arbeitern an der Reihe, von den Jutemagnaten abgewürgt zu werden. Wie damals Nowawes würde nun mehr Meißen durch die Stilllegung wie von einer Katastrophe getroffen werden, ein ganzer Stadtteil wäre dem Ruin verfallen, aber der Profit und die Quote stehen den Konzerngewaltigen höher als jene 600 Familienväter. 1928 schloss der Lahusen-Betrieb seine Tore. Ein anderer Konzern wollte dann in den Räumen eine Weberei einrichten, aber das waren nun erst Athleten: als sie die Webstühle in die Arbeitssäle trugen, bog sich die Decke. Denn Webstühle sind schwerer als Spinnmaschinen, genauer gesagt, auf den Raum, der einer Spinnmaschine Platz gibt, kommen vier Webstühle, die Spinnmaschine verteilt mehr die Last. Ehe jedoch die Decken gerade gebogen waren, hatte der andere Konzern bereits das Zeitliche gesegnet: es war die „Toga“.
Und die Tuchfabrik von Adolf Pitsch ging 1928 mit 800 fleißigen Männern und Frauen zu Ende. Man wandelte noch den Betrieb in eine Aktiengesellschaft um und versuchte mit 200 Mann weiterzuarbeiten, aber das war Ende 1930 dann auch aus. Als sich schließlich der Nachfolger des alten Pitsch, der selber schon alte Levi einer Schuldenlast von 7 Millionen Mark gegenübersah, nahm er einen Revolver und schoss sich tot. Und der alte Hozak, der mal mit 100 Arbeitern die feinsten Teppiche knüpfte – z.B. für die Riesensäle von Potentaten oder die Luxusdampfer des Lloyd und der Hapag –, dieser Mann läuft auf seine alten Tage herum und sucht Aufträge für Flickarbeit heranzuholen.
Von den 29000 Einwohnern der Stadt samt Säuglingen und Greisen sitzen heute rund 6000 auf dem Arbeitsnachweis. Dennoch bekennen sich von den bisherigen 32 Stadtverordneten 16 zur Sozialdemokratie. Die armen Nowaweser werden sich auch am 5. und 12. März tapfer für die Freiheit schlagen. Das ist gewiss.
(Ein Artikel aus der Beilage der Zeitung Vorwärts vom 26.02.1933.)