Da waren sie nun sichtbar, die verblichenen Zeichen aus einer spannungsgeladenen Zeit der Kämpfe in der Weimarer Republik. In der Sonderausstellung des Potsdam Museums “Umkämpfte Wege der Moderne – Geschichten aus Potsdam und Babelsberg 1914 – 1945“, 2019 hervorragend kuratiert von Dr. Wenke Nitz, waren neben dem Banner des Ortsvereins der Sozialdemokratischen Partei (SPD) von Nowawes, der kupferne Stern vom von Nazis geschändeten Grab des ermordeten Jungkommunisten Herbert Ritter (1914 – 1931) und eben auch das Banner der Ortsgruppe Potsdam des Roten Frontkämpferbundes (RFB) ausgestellt. So mancher Besucher wird sich im Stillen die Frage gestellt haben, wie diese Symbole des proletarischen, kämpferischen Selbstbewusstseins die braunen Jahre der faschistischen Diktatur in Nowawes (Babelsberg) und in Potsdam überleben konnten. Das SPD-Banner wurde unter großer Gefahr vom Sozialdemokraten Wilhelm Schulze in seinem Haus im Blumenweg vor den Häschern versteckt. Der kupferne Stern, einstmals vom Klempner Karl Meichner aus der Großbeerenstraße gefertigt für Ritters Grab, dessen Grabstein der später von den Nazis im KZ Oranienburg ermordete Kommunist Walter Klausch (1907 – 1933) entwarf, wurde vom sozialdemokratischen Friedhofsarbeiter Otto Oerlecke ( 1892 – 1942) und seiner Frau Alma (1892 – 1969) nach der Grabschändung sichergestellt und versteckt – bis nach der Befreiung.
Und die Fahne des RFB Potsdam? Bekanntlich wurde der RFB nach den blutigen Maiunruhen 1929 reichsweit verboten. Und wieso die RFB-Fahne aus Potsdam – und nicht ein Banner des RFB Nowawes, der weit stärker organisiert war als die proletarische Diaspora im alten Potsdam? Und warum versuchten wir als Geschichtswerkstatt Rotes Nowawes die Frage zu stellen, wie dieses Potsdamer Banner die Zeiten überleben konnte? Weil es ohne – vor allem Arbeiterfrauen aus Nowawes – dieses Banner nie gegeben hätte und auch heute nicht im Fundus des Potsdam Museums aufbewahrt werden könnte…
Einer mutigen Nowaweser Frau, nämlich Wally Lehnert, verdanken wir dies Rettungsaktion. Aber alles fing schon viele Jahre früher an. Im Nachgang zu den blutige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und kommunistischen Demonstranten die gegen einen „Deutschen Tag“ nationaler Verbände am 11. Mai 1924 in Halle protestierten, entschied die Kommunistische Partei (KPD) erste Ortsgruppen eines im Umfeld der KPD agierenden eigenen Wehrverbandes zu gründen. Im Laufe des Jahres wurde folglich auch in Nowawes eine Ortsgruppe des RFB gegründet. In Potsdam rekrutierte sich eine Ortsgruppe insbesondere aus Arbeitern des Reichsbahnausbesserungswerkes, des einzigen großen Industriebetriebs im alten Potsdam, gelegen entlang der Alten Königstraße (heute Teil der Friedrich-Engels- Straße), ganz in Sichtweite der Nowaweser Textilfabriken. Eine Tuchfühlung, mehr noch eine entscheidende logistische Unterstützung der Nowaweser RFBler für ihre Potsdamer Kameraden kann angenommen werden, zumal bei Aufmärschen im erzkonservativen, von Stahlhelm- und späteren SA-Aufmärschen geprägten Potsdam ohne die personelle Unterstützung Nowaweser und Berliner RFBler die kleine Potsdamer Gruppe kaum eine Chance gehabt hätte.
Und doch gab es kleine Unterschiede zwischen beiden Ortsformationen, die sich letztendlich auch bei der Herstellung ihres jeweiligen Banners zeigten. Die Anfangsjahre des RFB Nowawes schreibt einaml der späteren Nowaweser RFB-Funktionärs Kurt Laube als von „linksradikalen“ Elementen dominiert. Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass im industriell geprägten Nowawes nach Jahren der Inflation und Arbeitslosigkeit und einer sich stark behauptenden USPD und später eher linken SPD politische Akteure links dieser Partei eher unter dem Einfluss rätekommunistischer Ansichten (Kommunistischen Arbeiterpartei – KAPD) standen. Der Einfluss der Berliner KPD-Zentrale (noch) bei den jungen RFBler war eher gering. In Potsdam scheint es teilweise ein anderes Milieu gegeben zu haben. Aber auch hier schweigen die Quellen weitestgehend.
Margarete Buber-Neumann (1901-1981), einstmals verheiratet mit dem Sohn des deutsch-jüdischem Philosophen Martin Buber, und später mit dem führenden KPD-Funktionär Heinz Neumann, der 1937 Opfer des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion wurde, berichtet in ihren Lebenserinnerungen „Von Potsdam nach Moskau und zurück“ davon, dass neben dem Potsdamer RAW-Schlosser und KPD-Vorsitzenden Albert Heese (1881 – 1959) auch ein gewisser Ewald Fritsch, seines Zeichens Leiter des RFB Potsdam, 1926 bei ihrem Eintritt in die KPD ihr Bürge war. Während Heese den Krieg überlebte und auch in der DDR als aufrechter Antifaschist gewürdigt wurde, schien der Name von Fritsch völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Erst im Rahmen der Nachforschungen zu den Biographien von politisch aktiven Arbeiterfrauen aus Nowawes stieß die Geschichtswerkstatt im Landeshauptarchiv auf Lebenserinnerungen der Kommunistin Wally Lehnert, die Ewald Fritsch und seine Rolle bei der Sicherung der Potsdamer RFB-Fahne beschrieb.
Ewald Fritsch kam im Vergleich zu seinen Potsdamer und Nowaweser RFB-Kameraden aus einem eher untypischen Milieu. Am 3.Januar 1903 wurde er als Sohn des Militärgerichtsmitarbeiters Matthias Fritsch, der aus Fortschwihr im Elsass stammte und als sehr kaisertreu gelten kann, und der Potsdamerin Elsbeth Rieboldt in Mainz geboren. Sein Bruder Konrad folgte ein Jahr später. Die Tatsache, dass sein Vater Elsässer war, erleichterte Ewald später die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Frankreich. Nachdem die Eltern 1901 noch in Potsdam geheiratet hatten, folgte das junge Paar dem dienstlichen Ruf nach Mainz. Nach Beginn des 1. Weltkrieges arbeitet der Vater weiterhin beim Militärgericht und verstarb 1915 mit gerade mal 49 Jahre in einem Lazarett in Straßburg. Die 37-jährige „Oberkriegsgerichtssekretärswitwe“ zog mit ihren 12- und 11-jährigen Jungs wieder nach Potsdam zurück, nunmehr in ein sehr bürgerliches Mietshaus in die Teltow Straße 8 (heute Schlaatzstraße. Ein Haus weiter, in der Nr. 9 wohnte die Familie des Geheimen Kanzleisekretärs Friedrich Huchel, mit dessen gleichaltrigem Sohn Peter (1903 – 1981) sich Ewald schnell anfreundete. Beide hatten auch einen gemeinsamen Schulweg – hin zur Oberrealschule Am Kanal 66, rüber über die Havel ins alte Potsdam. Ob es die tägliche Begegnung mit den zum RAW strömenden Proleten war, die ihn sensibel werden ließ für die ärmeren Leute in seiner Umgebung?
In seiner Freizeit war er wie sein Freund Peter bei den Wandervögeln, also in einer bürgerlich-naturverbunden Jugendvereinigung aktiv. Margarete Thüring, später Buber-Neumann, Tochter eines Potsdamer Brauereibesitzers wird er erstmalig auch in der Potsdamer Wandervögelbewegung begegnet sein. Sie wurde schon mit 20 Jahren Mitglied im Kommunistischen Jugendverband (KJVD). Ihre 3 Jahre ältere Schwester Babette Thüring, später Gross (1898 – 1990), hatte schon 1920 den Weg in die KPD gefunden und wurde später Lebenspartnerin von Willi Münzenberg. Es scheint das radikale Aufbegehren der Nachkriegsjugend gegen Elternhaus und – aus Sicht vieler Linker – der Verrat an der Revolution 1918/19 gewesen zu sein, der junge Potsdamer hin zu den Kommunisten trieb.
Später wird Peter Huchel Ewald mal als „Bohemien und Nachbarn“ bezeichnen. 1926, mit 23 Jahren, arbeitete Huchel beim Gustav Kiepenheuer Verlag in Potsdam, Viktoriastraße 59 (heute Geschwister-Scholl-Straße). Im gleichen Jahr legte Margarete Buber-Neumann Zeugnis davon ab, dass Ewald der RFB-Führer von Potsdam ist und auch Mitglied der KPD. Diese Entwicklung scheint sehr im Kontrast zum Familienhaus und auch zum sozialen Milieu seines Wohnumfeldes zu stehen.
Als junger Kommunist aus bürgerlichem Hause ging er dann in seiner Partei auch ungewöhnliche Wege: Zwar führte er mit gerade mal 23 Jahren die Ortsgruppe Potsdam des RFB an, musste jedoch auch unkonventionelle Einfälle haben, um dem RFB in der preußischsten Stadt Preußens Gehör und Gesicht zu verschaffen – und das angesichts klammer Kassen des örtlichen RFBs und der KPD.
Wie schon seit der Kaiserzeit in allen Arbeiterorganisationen üblich, schmückte man sich in der Öffentlichkeit nicht nur mit Transparenten, sondern auch mit Bannern und Fahnen. Fahnenweihen und deren Jahrestage wurden immer wieder zum Kristallisationspunkt historischen Gedenkens und Mutmacher für eine andere, bessere Zukunft. Auch die Nazis sollten später diese Arbeitertradition für ihre Zwecke vereinnahmen.
Einem Foto vom 1926 kann man entnehmen, dass zu dieser Zeit der weitaus stärkere RFB in Nowawes schon eine eigene Fahne besaß. Ein rotes Fahnentuch mit aufgenähter Roter Faust und dem Hinweis auf den RFB Nowawes. Zu mehr reichten die Arbeitergroschen in Nowawes auch nicht, zumal sie für die Aufmärsche mit Schallmeienmusik ihren Zweck erfüllte. In Nowawes brauchte man also keine „hochwertigen Symbole“. Für den Potsdamer RFB, der ohne die Unterstützung der Nowaweser Kameraden es auch auf den Straßen schwer hatte, stellte sich die Frage der Fahne ganz anders – zumindest für den jungen Anführer Ewald. Für ihn war es wichtig, den Beweis zu erbringen, dass auch Kommunisten und ihre „Vorfeldorganisation“ in der Lage waren, linkskulturelle Kreise anzusprechen. Sowohl über seine Verlagstätigkeit als auch über andere Milieus seiner Potsdamer Jugendfreunde unterhielt er als junger Mensch gute Beziehungen in die linke Berliner Kunstszene und gewann den zu dieser Zeit noch der KPD angehörenden Maler und Graphiker Rudolf Schlichter (1890 – 1955) eine Postkarte für den RFB zu entwerfen, die dann gegen eine „Fahnenspende“ verkauft werden sollte. Die Postkarte, von der mehr als 5000 Stück bei der Potsdamer Lithographischen Kunstanstalt und Buchdruckerei Robert Müller in der Breiten Str. 23 hergestellt wurden, zeigte das Schloss Sanssouci mit einer das Schloss überragenden roten Fahne. Der in der besagten Druckerei arbeitende Litograph und Kommunist Hermann Elflein (1892 – 1943), der später von den Nazis im KZ Sachsenhausen ermordet wurde, bürgte mit einem Monatsgehalt dafür, dass die gedruckten Postkarten auch bezahlt wurden. Die anschließende Verkaufskampagne war ein großer Erfolg. Tuch, Seide und Fahnenstil konnten besorgt werden.
Und nun kommen erstmals die Nowaweser Frauen ins Spiel. Als Textilarbeiterinnen waren sie geradezu prädestiniert, den Potsdamer Kameraden zu helfen, zumal viele von ihnen in der Kommunistischen Jugend und im Roten Frauen- und Mädchenbund organisiert waren. Sie bestickten das seidene Fahnentuch mit dem RFB-Emblem und der Losung „Ob sie uns auch zerbrechen – Sie beugen uns doch nicht“. Die Wahl der Losung fiel auf Worte aus einem Gedicht, das der langjährige linke Sozialdemokrat und Mitbegründer der KPD, Karl Liebknecht, im Herbst 1918 geschrieben hatte.
Unzweifelhaft trug auch der Verkauf der Postkarten in Nowawes zum Erfolg des Projektes bei, zumal die „Potsdamer“ RFB-Fahne auch bei Demonstrationen in Nowawes vorangetragen wurde. Und sowohl die Potsdamer „Arbeiter-Postkarte“ als auch die Potsdamer RFB-Fahne waren angesichts des erzkonservativen Milieus in der ehemaligen Residenz- und Militärstadt viel wirksamer als mit einer „Nowaweser“ durch Potsdam zu marschieren. Alljährlich nahm die KPD den 1. August, also den Jahrestag des Ausbruchs des 1. Weltkrieges zum Anlass, um mit Veranstaltungen und Aufmärschen einen „Antikriegstag“ zu begehen. So war es auch 1926. Auf dem kleinen Exerzierplatz – einer Nowawes Enklave auf Potsdamer Stadtgebiet, nicht weit von Ewalds Wohnung entfernt – versammelten sich viele Kameraden aus Berlin und Nowawes, um zum Bassinplatz im Herzen der Altstadt von Potsdam zu ziehen, wo der zweite Bundesvorsitzende des RFB, Willy Leow (1887 – 1937), die Fahnenweihe vornahm.
Seine Arbeit beim Verlag brachte Ewald wenig Geld ein. So wagte er es gar unter Pseudonym einen Artikel bei der erzkonservativen „Potsdamer Tageszeitung“ unterzubringen. Ganze 10 Mark bekam er dafür. Sein politisches Engagement blieb der politischen Polizei nicht verborgen Schon 1926 wurde sein Zimmer in der Teltower Str. 8 nach staatsfeindlichen Schriften durchsucht. Seine Zeit in Potsdam neigte sich langsam dem Ende zu. Da zur selben Zeit Gustav Kiepenheuer wollte, dass Ewald den Buchvertrieb in Bremen aufbaut, verließ Ewald Potsdam und war seit 1928 wieder in der Hansestadt. Auch sein Bruder Konrad lebte dort schon als Buchhändler. In Bremen lernte Ewald die 9 Jahre ältere 34-jährige Witwe Julia Ludewig kennen und heiratete sie am 19. Januar 1928. Dennoch scheint sein politischer Kontakt nach Potsdam (und Nowawes) nicht abgebrochen zu sein.
Als Ergebnis des „Berliner Blutmais 1929“, zu dem die KPD trotz des offiziellen Verbotes öffentlicher Veranstaltungen unter freiem Himmel durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten zu Demonstrationen aufgerufen hatte und die Berliner Polizei in Wedding und Neukölln mit brachialer Gewalt gegen kommunistisch dominierte Kieze vorgegangen war und dabei mehrheitlich parteilose und Unbeteiligte erschossen hatte, verfügte am 3. Mai 1929 der preußische Minister des Innern Carl Severing (SPD) das Verbot von RFB, Roter Jungfront und Roter Marine mit Wirkung zum 6. Mai 1929 „gemäß dem Gesetze zum Schutze der Republik, des Gesetzes vom 22. März 1921 und des Reichsvereinsgesetzes für den Bereich des Freistaates Preußen“. Die für die zur Durchsetzung des Verbotes in Potsdam und Nowawes zuständige Potsdamer Polizei handelte unverzüglich. Während für die Nowaweser RFBler das Verbot wohl sehr überraschend kam – oder war man sich angesichts seiner Mitgliederstärke zu sicher? – waren die Potsdamer besser vorbereitet. In der Nowaweser Mühlenstraße wurde der RFB-Treffpunkt von der Polizei ausgehoben und vorgefundene Agitationsmaterialen und Mitgliedernachweise beschlagnahmt. Die RFB-Ortsgruppe Potsdam hingegen konnte wohl der Polizei eher entgehen, zumindest konnte die RFB-Fahne der Ortsgruppe gerettet werden. Beim Durchsuchen der Wohnung des Potsdamer „RFB-Rädelsführers“ Ewald Fritsch – er hatte trotz seiner Bremer Liason ein Zimmer in Potsdam bei Schayer am Schützenplatz 1 (heute Leipziger Dreieck) – fand die Polizei nur RFB-Rundschreiben, Beitrittsformulare und Korrespondenzen. Die RFB-Fahne jedoch nicht! Sie scheint schon vorher in Sicherheit gebracht geworden zu ein.
Und hier kommt wieder eine Nowaweser Genossin ins Spiel. Waren die wenigen RFBler in Potsdam polizeibekannt, so war das gesamte Netzwerk um die KPD herum in Nowawes viel umfangreicher und von der Polizei weniger zu durchschauen. Diese Chance erkennend, schickte Ewald seinen Bruder Konrad rüber nach Nowawes, um zu dortigen Genossen Kontakt aufzunehmen, mit dem Ziel, die wertvolle Fahne zu verstecken. Die Wahl fiel auf Wally Vogel, später Lehnert, Tochter der stadtbekannten kommunistischen Stadtverordneten von Nowawes, Anna Müller (1883 – 1972). Die Entscheidung kam nicht von ungefähr. Man kannte sich, da Wallys Brüder Rudolf und Kurt auch im RFB organisiert waren und sie selbst erst seit wenigen Monaten mit dem Rohrleger und führenden Funktion der Roten Jungfront Nowawes, Kurt Vogel (1910 – 1995) verheiratet war. In aller Stille nähte Wally das Fahnentuch in ein Sofakissen ein, ohne zu ahnen, dass dies später noch einmal gefährlich werden sollte…
Über die Gartenstr. 20 – hier wohnte Wally zeitweilig – sollte die Fahne in der Zeit des Faschismus ihr geheimes Domizil in der Wohnlaube von Wally Lehnert – nunmehr verheiratet mit dem Kommunisten Alfred – in der Drewitzer Bahnhofstraße 52 finden.
Im Sommer 1944 – Ehemann Alfred war zwischenzeitlich in KZ-Haft und im Nachgang ständig unter Polizeibeobachtung – liefen die Lehnerts Gefahr, durch eine Unachtsamkeit erneut in die Fänge der Gestapo zu gelangen. Das Sofakissen, in das Wally die Potsdamer RFB-Fahne eingenäht hatte, schnappte sich der 15-jährige Sohn Charlie, um damit ein kleines Ruderboot für eine Fahrt auf der Nuthe auszupolstern. Wally bemerkte dies noch rechtzeitig und konnte das Kissen wieder nach Hause bringen. Sohn Charlie sollte erst nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus erfahren, warum seine Mutter hoch erregt damals das Kissen wieder an sich nehmen wollte und musste. Die Gefahr für die Lehnerts und ihre nunmehr drei Kinder war greifbar.
Der 24. April 1945 – die weitestgehend kampflose Befreiung Babelsbergs durch die Rote Armee – war auch für die Potsdamer RFB-Fahne ein „Tag der Freiheit“. Als Zeugnis einer wichtigen Tradition der Arbeiterbewegung in Potsdam und Nowawes fand sie nun Eingang in den Fundus des Museums von Potsdam.
Und was wurde aus dem eigentlichen „Anstifter“ der Fahne, aus Ewald Fritsch? Während sein Bruder Konrad als Buchhändler in Bremen blieb, trennte sich Ewald von seiner Frau und ging nach Berlin. Hier hatte auch sein ehemaliger Schulfreund Peter Huchel Anfang der 30er Jahre seinen Wohnort gewählt hatte, und zwar in der „Künstlerkolonie“ Wilmersdorf. Zusammen mit Peter wohnt er in der Wohnung des Publizisten und Kommunisten Alfred Kantorowicz (1899 – 1979) in der Kreuznacher Str. 48. Auch Wilma Pabst (1907 – 1973), die später noch eine wichtige Rolle spielen sollte, zog nach ihrer Rückkehr aus Paris dort ein.
Auf seinen vielen Wegen durch ganz Berlin lernte Ewald die ungarische Jüdin Lilla Szanto (1910 – 1996), die bei ihrer Schwester Maria in der Potsdamer Straße 121i lebte, kennen und lieben. Im März 1933 – als Lilla schon schwanger war – stürmte die SA die Künstlerkolonie in Wilmersdorf, viele Antifaschisten wurden zur Flucht getrieben. Nach den März-Wahlen 1933 wurden dann auch Ewald und Lilla inhaftiert. Da Lilla österreichische Staatsbürgerin war, wurde sie ausgewiesen. So wurde ihr gemeinsamer Sohn Michael Sternberg (1933 – 2021) am 12. August 1933 in Wien geboren. Später gelang ihr die Flucht nach Großbritannien. Ewald selbst blieb in Haft. Nach seiner Entlassung stand er unter Polizeiaufsicht. Schon 1935 wurde er erneut von der Gestapo verhaftet. Seine alte Bekannte aus der Wilmersdorfer Künstlerkolonie, Wilma Papst, holte ihn am Gefängnistor ab und brachte ihn nach Hause.
Da Ewalds und Konrads Vater aus dem Elsass stammten, hatten beide auch Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft. Und auch Wilma wollte als Deutsche und Jüdin legal nach Frankreich ausreisen. Doch dies schien unmöglich. Daher fädelt Ewald eine Zweckehe seines Bruders Konrad mit Wilma in Bremen am 13. April 1935 ein. Ewald selbst war Trauzeuge. Nunmehr war auch Wilma „Französin“. In getrennten Zügen flüchteten Wilma und Ewald gen Frankreich bis nach Bordeaux. Beide heirateten und die Tochter Catherine wurde geboren.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen meldete sich Ewald umgehend bei der französischen Armee – aber unter einer falschen Identität, um als echter Franzose gegen die Nazis kämpfen zu können. Er behielt zwar seinen Namen bei, gab jedoch an, am 2. Januar 1902 in Bordeaux geboren worden zu sein. So konnte er im 621. Pionierregiment dienen. 1940 konnte er der Kriegsgefangenschaft entgehen und schloss sich der Resistance an.
Nach dem Krieg zog er mit Wilma nach Paris. Während Wilma ihre philosophischen Studien weiter betrieb, arbeitete Ewald nur sporadisch, da er im Ergebnis seiner Haftzeiten in Nazi-Deutschland von posttraumatischen Störungen heimgesucht wurde.
Ewald starb am 8. Oktober 1971 in Paris, Wilma 1973. Bruder Konrad starb 1964 in Bremen.