100 Jahre Teuerungsunruhen von Nowawes

Die Anfänge der Demokratie in Deutschland, so auch in Nowawes und Umgebung, waren geprägt von Aufbruch und Veränderung, aber auch politischer Gewalt und wirtschaftlicher Unsicherheit. Am 15. Januar 1919 waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Gründungsmitglieder der KPD, ermordet worden, am 21. Februar 1919 fiel der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner einem Attentat zum Opfer. Am 10. März wurde auch Leo Jogiches ermordet, der nach dem Tod von Liebknecht und Luxemburg den Vorsitz der KPD übernommen hatte. Die Gewaltwelle setzte sich über die Jahre fort. Es traf prominente Politiker wie den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und auch den Reichsaußenminister Walther Rathenau. Deren Mörder wie auch die Gewalttäter auf den Straßen waren zumeist nationale und rechtsradikale Personen, oftmals in Gruppen, Freikorps oder anderen Verbänden organisiert.

Trotz der massiven Gewalt gab es auch Solidaritätsbekundungen mit der noch jungen Republik.  Es versammelten sich Millionen Menschen in den Städten bei den Trauerkundgebungen für die Opfer. Viele sahen die Republik mit Hoffnungen verbunden. Doch der Anfang war schwer, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Die Weimarer Republik sah sich Krisen von innen und außen ausgesetzt, hinzu kamen die Beschränkungen aus dem Versailler Vertrag von 1919, eine prekäre Versorgungslage und permanente Arbeitskämpfe und Streiks. Zu diesen Faktoren kam der Einmarsch von französischen und belgischen Truppen in das Ruhrgebiet, vor allem als Reaktion auf die Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Reparationsverpflichtungen seitens Deutschlands. Vor allem in den Großstädten herrschte Hunger und Not an Wohnraum.

Infolgedessen entschied sich die Regierung unter dem parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno zum passiven Widerstand. Dieser wurde von der Bevölkerung unterstützt, aber er brachte die Republik in eine enorme wirtschaftliche Schieflage. Die Inflation stieg ungebremst, Kapitalanlagen – vor allem die der Mittelschicht – gingen verloren und die Ersparnisse der Bevölkerung – wenn überhaupt vorhanden – lösten sich in Luft auf. Deutschland konnte die Reparationszahlungen nicht bedienen, Schulden mussten aufgenommen werden, was die Inflation und wirtschaftliche Krise noch einmal ankurbelte. Millionen von Menschen waren von Armut betroffen, der Reallohn sank, während die Lebensunterhaltungskosten stiegen. Diese prekäre Lage fand sich überall wieder, so auch hier in Nowawes. In diese Zeit der Krise und sozialen Kämpfe fällt der Große Berliner Metallarbeiterstreik und auch der sogenannte Nowaweser Kartoffelkrieg, wie die Teuerungsunruhen auch bezeichnet wurden.

In Nowawes lag der Kapp-Putsch, der durch das Wirken eines Aktionsausschusses der Arbeiterparteien, vor allem von SPD und USPD, und durch einen Generalstreik hier im Ort keine Chance hatte, einige Jahre zurück. Die soziale Lage bestimmte die Nowaweser Kommunalpolitik, die hauptsächlich durch die Arbeiterparteien getragen wurde. Zu knabbern hatten die Gemeindevorsteher mit den horrenden Kosten im sozialen Bereich, und sie wurden nicht müde, die Regierungsstellen um Erhöhung der staatlichen Beihilfe infolge der sozialen Situation zu bitten. Dies betraf unter anderem die Erwerbslosenfürsorge. Ein weiteres großes Problem war die Wohnungsnot, eine kommunale Fürsorge bzw. ein Wohnungsbauprogramm war hier erst im Entstehen. Im Januar 1922 erfolgte ein Aufruf des Gemeindevorstandes von Nowawes, den alten, hungernden und darbenden Leuten zu helfen. Der Stadtarzt berichtete über die prekäre Gesundheitslage. Suppenküchen für arme Menschen und eine Mittagsversorgung der Wohlfahrtspflege für Schulkinder wurden etabliert In den großen Betrieben waren Demonstrationen und Streiks an der Tagesordnung.

Wochenmarkt auf der Priesterstraße (heute Karl-Liebknecht-Straße), Q: Sammlung Geschichtswerkstatt

Am 6. Juli 1923 begann in Berlin der Metallarbeiterstreik. Fast alle Großbetriebe waren vom Ausstand betroffen, nur AEG noch nicht. Dazu die Abendausgabe des Berliner Tageblatt vom 6. Juli 1923: „Die Streikleitung der Berliner Metallarbeiter hat in ihrer gestrigen Sitzung für heute die Streikparole für 60 Berliner Metallbetriebe beschlossen, nachdem die Urabstimmung 120.444 Stimmen für Streik und 9049 für Annahme des Schiedsspruchs ergeben hatte.“ Der Metallarbeiterverband forderte mit diesem Streik die Regierung auf, in die Lohnbewegung einzugreifen. Ein gerechter Lohn müsse für die geleistete Arbeit gezahlt werden. Doch nicht nur der Streik der Metallarbeiter fand regionale Beachtung, denn auch die Preissteigerungen waren politisches Thema. So fand am 7. Juli unter dem Berliner Vorsitz eine Tagung von Vertretern der Preisprüfungsstellen von Berlin, Potsdam und Frankfurt/Oder statt, an dem sich auch Polizei, Landwirtschaftskammer und der Markthallendirektion beteiligten. Vor allem die Butterpreise wurden als preistreibend gebrandmarkt. Eine Arbeitsgemeinschaft wurde gegründet. [1]

Schon einen Tag später berichtete die Presse über Lebensmittelkrawalle in Nowawes:

„Lebensmittelkrawalle in Nowawes. Erzwungene Preisherabsenkungen.

Zu ernsten Lebensmittelunruhen kam es heute in Nowawes. Schon in den ersten Stunden des Vormittags zogen Tausende von Männern und Frauen auf den Wochenmarkt, stürmten die Fleischerläden und zwangen die Inhaber, das Fleisch billiger zu verkaufen. Unter dem Druck der Menge mussten die Fleischer ihre Waren, die ursprünglich 40 000 Mk. das Pfund kosten sollten, für 10 000 Mark abgeben. Um halb 12 Uhr wurde von Potsdam polizeiliche Hilfe erbeten. Bald darauf trafen zwei Hundertschaften ein und versuchten die Ruhe wiederherzustellen. Die Menge hingegen zog von Geschäft zu Geschäft und setzte die Preise für alle Lebensmittel bedeutend herunter. Zu den gewaltsam verbilligten Preisen fanden sich natürlich viele Käufer. So wurde die Lebensmittelhandlung Presto vollkommen ausverkauft. Das Geschäft musste unter anderem die Butter mit 10 000 Mark pro Pfund wahllos an alle Käufer abgeben.“ [2]

Tags darauf berichtete das Berliner Tageblatt:

„Die Lebensmittelunruhen in Nowawes. Nachprüfung der Preise.

Die Lage in Nowawes hat sich in den Abendstunden des gestrigen Montags doch noch so zugespitzt, dass in einer gemeinsamen Sitzung der Vertreter der Polizei, der Gewerkschaften, des Handels und Gewerbes, sowie der Preisprüfungsstelle die Gewerkschaftsführer offen erklärten, dass sie für heute kaum die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung garantieren könnten (…). Für heute früh 7 Uhr war ein Demonstrationszug der Erwerbslosen zum Rathaus Nowawes vorgesehen, wo Forderungen, wie unentgeltliche Abgabe von Lebensmitteln und Auszahlung größerer Geldbeträge aufgestellt und im Anschluss daran nach der zu erwartenden Ablehnung die Arbeiterschaft aus den Betrieben geholt werden sollten.“ [3] Auch andere regionale Zeitungen berichteten, darunter die Potsdamer Tageszeitung, der sozialdemokratische Vorwärts oder auch die Berliner Börsenzeitung. Auf Druck der Bevölkerung wurden Lebensmittel und andere Sachen weit unter dem „Normalpreis“ verkauft. Zudem bildeten sich im Laufe des Tages fünf Preisprüfungskommissionen für verschiedene Branchen.

In jener Zeit gab es in Nowawes rund 35 Schlächtereien, 40 Bäckereien und rund 50 Kolonial- und Materialwarenhandlungen, die Wein, Delikatessen, Kaffee und Käse verkauften, so das Adressbuch aus dem Jahr 1922. Man kann nur erahnen, wie gegensätzlich auf der einen Seite die Händler agierten und auf der anderen Seite die verarmte Bevölkerung hungerte. Eine Preisprüfungskommission aus Vertretern der Polizei, der Gewerkschaften sowie der Händler, die im Rahmen ihrer Tätigkeit von Geschäft zu Geschäft gingen und die Preise auf ihre Berechtigung nachprüften, entstand. Aus dem Vorwärts vom 10. Juli ist deutlich erkennbar, dass sich die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften darum bemühten, für Ruhe auf den Straßen zu sorgen. Interessant ist auch der Fakt, dass die Menschen die aus Potsdam herbeigeschaffte Polizei loswerden wollten. Hierzu der Vorwärts: „In der fünften Nachmittagsstunde versammelte sich abermals eine fünfhundertköpfige Menschenmenge vor dem Rathause an, die die Zurückziehung der Potsdamer Schupo [Schutzpolizei] aus dem Rathause forderte.“ [4]  

Artikel aus dem Vorwärts vom 09.07.1923

Die Potsdamer Schupo, die überaus harsch auf die Proteste agierte und mehrere Personen festnahm, war im proletarisch geprägten Nowawes nicht gern gesehen. Seit dem Juni 1921 wurde jedoch dem langjährigen Plan von Potsdams Polizeipräsident von Zitzewitz zugestimmt, dass Nowawes nun der Potsdamer Polizei unterstellt werden sollte, obwohl Nowawes zum Kreis Teltow gehörte. Damit konnte eine bessere Überwachung und Repression gegen die Arbeiter:innen des Roten Nowawes erfolgen, die den meist gutbürgerlichen Potsdamer:innen und seinem preußischen Beamtentum ein Dorn im Auge waren. In ihrem Sinne nicht ganz zu Unrecht, so nutzen auch Kommunisten die Situation rund um die Teuerungsunruhen aus und mobilisierten Erwerbslose und politische Aktivisten auf die Straßen. So fand eine Erwerbslosenversammlung statt und anschließend ein Demonstrationszug. Hier der Bericht des Vorwärts vom 11.07.1923:

„Am Vormittag fand die von linksradikaler Seite einberufene Erwerbslosenversammlung statt, in der die Gewerkschaftsführer von Nowawes beruhigend auf die Arbeitslosen einzuwirken suchten. Die Versammlung verlief ziemlich stürmisch und nach ihrer Beendigung marschierten die Erwerblosen im geschlossenen Zuge zu der Fabrik von Pietsch und einem anderen Werk, wo man aber schleunigst die Fabriktore geschlossen hatte, so dass die Demonstranten nicht eindringen konnten. Den Gewerkschaftsführern und Betriebsräten gelang es schließlich nach längeren Verhandlungen, die Erwerbslosen wieder zum Abzug zu bewegen.“ [5] Sowohl die Kommission zur Überwachung der Lebensmittelpreise als auch die beschriebenen Aktivitäten des Gewerkschaftskartells und die in Nowawes stationierte Polizei sorgten letztendlich für ruhige Tage nach den Montagskrawallen.

Das Agieren der Nowaweser Bevölkerung, hauptsächlich jedoch der Frauen, auf dem Wochenmarkt in der Priesterstraße (heutige Karl-Liebknecht-Straße), wo dreimal in der Woche der Markt stattfand, war kein Nowaweser Alleinstellungsmerkmal. Der Erfolg der Proteste, die sicherlich nicht ganz friedlich verlaufen waren, aber die Not und den Hunger der Menschen verdeutlichten, vollzog sich auch in anderen Landesteilen. Man kann nur erahnen, wie hilflos die armen Bevölkerungsschichten der Inflation, den teilweise willkürlichen Preissteigerungen und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ausgesetzt waren. So ist es nicht verwunderlich, dass die Teuerungsunruhen in Nowawes ihre Nachahmung selbst im konservativen Potsdam fanden.

Hierzu berichtet das Berliner Tageblatt vom Mittwoch, dem 11. Juli, unter der Überschrift `Demonstration auf dem Potsdamer Wochenmarkt´. „Ähnlich wie in Nowawes ereignete sich heute Vormittag auf dem Potsdamer Wochenmarkt Lebensmittelunruhen. Zahlreiche Arbeitslose, streikende Metallarbeiter und Frauen stürmten die Stände der Lebensmittelhändler und verlangten die Abgabe der Waren zu ermäßigten Preisen. Im Anschluss daran zogen einzelne Trupps durch die Straßen und wollten die Herabsetzung der Preise in den einzelnen Geschäften erzwingen. Daraufhin sind zahlreiche Läden geschlossen worden.“ [6] Eine Normalisierung der Lebensmittelversorgung und ein Bändigen der Inflation setzte nur langsam ein. Doch die Teuerungsunruhen waren ein radikales Mittel, um nicht nur der bitterlichen Not Ausdruck zu verleihen, sondern auch um Veränderungen zu erkämpfen. Erst die Einführung der Rentenmark im November 1923 leitete eine Stabilisierung von Währung und finanzieller Lage ein. 

[1] Berliner Tageblatt, Morgenausgabe vom 08.07.1923

[2] Berliner Tageblatt, Abendausgabe vom 09.07.1923

[3] Berliner Tageblatt, Abendausgabe vom 10.07.1923

[4] Vorwärts vom 10.07.1923

[5] Vorwärts vom 11.07.1923

[6] Berliner Tageblatt, Abendausgabe vom 11.07.1923