Bereits am Vorabend der Märzrevolution von 1848/49 bildeten sich im Zuge der Industrialisierung und der zunehmenden Verelendung der Nowaweser Weber*innen aufgrund des langsamen Voranschreitens der Krise in der Weberei – hunderte von Webstühlen waren bereits stillgelegt – erste Zirkel und Vereine der Arbeiter*innenklasse. Damit ging die Arbeiter*innenbewegung weit über ihre ersten spontanen Erhebungen hinaus in Richtung auf eine organisierte Bewegung.
Wie prekär die soziale Situation in Nowawes war, zeigten die Notstandsarbeiten des preußischen Staates im Jahr 1847 für die arbeitslosen Weber*innen, die beim Wegebau an den neuen Uferstraßen zwischen Baumgartenbrück und Caputh, wo sie einen Tagelohn von 9 Groschen und eine warme Mahlzeit erhielten, eingesetzt wurden. (vgl. Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, S. 72). Doch auch diese Arbeiten endeten bald und die Nowaweser*innen zogen bettelnd durch die anliegenden Dörfer. Im Frühjahr 1848 ereigneten sich sogar mehrere Aufzüge von Kindern aus Nowawes, die mit Schippe und Spaten vor dem Gebäude der Potsdamer Regierung Arbeit forderten (vgl. Zur Geschichte der Stadt Potsdam von 1789 bis 1871, S. 38). Eine erste Suppenküche richtete man in Nowawes ein, in der sich 80% der Einwohner*innen anmeldeten. (PNN https://www.pnn.de/potsdam/schwarz-rot-gold-ueber-schloss-sanssouci/21600522.html)
Nowawes als Unruheherd war in den Fokus der Polizeibehörden geraten. Es gab sogar Vorschläge, die Nowaweser Bevölkerung getrennt in anderen Orten anzusiedeln und den Zuzug zu verbieten. Das Problem der Arbeitslosigkeit und prekären sozialen Situation wurde für die Regierung so wichtig, dass sie im Juni 1848 einen Beamten bestimmten, der in Verhandlung mit Nowaweser Fabrikanten und potentiellen Abnehmern, zum Beispiel in Berlin, verhandelte. Dies gestaltete sich jedoch mehr als schwierig, so dass die Nowaweser*innen wieder für den Straßenbau nach Rehbrücke, Drewitz und Großbeeren sowie für Streckenbauten der anstehenden Ostbahn in der Provinz Posen eingesetzt wurden. (vgl. Zur Geschichte der Stadt Potsdam von 1789 bis 1871, S. 42)
Doch die frühbürgerliche Revolution war weder national noch lokal aufzuhalten. Trotz der Militarisierung von Potsdam, immerhin war Potsdam als Residenzstadt strategisch wichtig, bildeten sich die ersten Zusammenschlüsse von Gewerbetreibenden und Arbeiter*innen, in denen es unter anderem um die Vertretungskörperschaft für die Frankfurter Nationalversammlung ging. Im Zuge dessen entstand der „Politische Verein“ unter der Führung von Max Dortu, der über Potsdam auch auf die Umgebung hinaus strahlte. Deutschlandweit wurden in der Revolution erste Erfolge erzielt, wie beispielsweise die Aufhebung der Pressezensur oder die Befreiung der Bauern. Ab Mitte 1848 errangen zunehmend die reaktionären Kräfte um König Wilhelm IV. – bekannt auch durch seinen Ausspruch „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ – die Oberhand, die Revolution kam zum Stilstand.
Wie widersprüchlich die Situation trotzdem war, illustriert eine Zeichnung des Neuruppiner Bilderbogen Nr. 2068, in der über die Rückkehr des nach London geflohenen Prinz von Preußen berichtet wird. Dieser war wegen seiner Auffassung zur militärischen Lösung der Lage zwar gefürchtet und bei Teilen der Bevölkerung verhasst, doch zugleich findet sich der nachfolgende Bericht über seinen Empfang in Nowawes: „Der Empfang Sr. K. Hoheit des Prinzen von Preußen hier in Nowawes bei Potsdam war eben so feierlich, wie herzlich. Troz [Wort im Original] des Sturmes der früheren Tage waren Ehrenpforten in großer Zahl gebaut, an deren erstere, die mit der deutschen und preußischen Fahne und vielen Blumen geziert, der größte Theil der Einwohnerschaft versammelt war. In geordneten Reihen stand die Schuljugend zu beiden Seiten des Weges, voran die weiß gekleideten Mädchen mit vielen Kränzen, Sträußen und Guirlanden. […] Schon seit zwei Tagen wurde der Prinz von Preußen erwartet. Auch hatte sich das Musikchor des ersten Garderegiments nach dem prinzlichen Schlosse auf den Babelsberg begeben, von dessen Zinnen herab die deutsche und die preußische Flagge vereinigt wehten.“ (https://www.deutschlandundeuropa.de/35_97/revolut.pdf) Auch wenn dieser Empfang und sicher auch der Bericht darüber von Militär und Offizierskorps gesteuert war, zeigt sich hieran deutlich das Auf und Ab zwischen Revolution und Konterrevolution.
Ein letztes Aufbäumen in Potsdam und Nowawes gab es am 12. November 1848, als mutige Demokrat*innen unter der Führung von Max Dortu die Eisenbahnschienen zwischen Potsdam und Nowawes aufrissen und Telegraphenverbindungen zerstörten. Damit sollten eine weitere Truppenverlegung von Potsdam in das aufrührerische Berlin und die Kommunikation zwischen beiden Städten werden. Dortu floh, Repression herrschte und die Revolution war zwar gescheitert, doch der Boden für eine weitere Politisierung der Bevölkerung geschaffen.
Die Gründung von politischen Vereinen mit sozialpolitischen Zielsetzungen, manchmal geprägt durch die jeweiligen Berufsstände in den Arbeitervereinen, durchlief eine Neukonstituierung in den frühen 1860er Jahren. „Unter Einbeziehung der Kaderorganisation des Bundes der Kommunisten kann man daher von einer zweifachen doppelpoligen Konstituierung sprechen: 1847/48-1862/63 bzw. BdK/AdAV Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (= ADAV/Vereinstag deutscher Arbeitervereine (= VDAV).“ (vgl. Die regionale Ausbreitung der frühen deutschen Arbeiterbewegung 1848/49-1860/64, S. 418) Eine Ortsgruppe des 1863 in Leipzig unter maßgeblichem Einfluss des Schriftstellers und Politikers Ferdinand Lassalle gegründeten ADAV bildete sich in Nowawes im September 1869. Auf der Gründungsversammlung, an der vor allem Textilarbeiter*innen und Hausweber*innen teilnahmen, wurden Versuche, die gemäßigt-liberalen Auffassungen von Franz Hermann Schulze-Delitzsch (Begründer des deutschen Genossenschaftswesens) und der Hirsch-Dunckerschen Gewerksvereine (Vertretung fast ausschließlich ökonomischer Interessen der Arbeiter) zu verbreiten und die Anwesenden vom Eintritt in den ADAV abzuhalten, abgewehrt. (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 121)
In Potsdam erfolgte die Bildung einer ADAV-Ortsgruppe erst Ende des Jahres 1872. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatte sich die Nowaweser Organisation allerdings wegen latenter innerer Zwistigkeiten und wegen des Drucks der reaktionär-konservativen preußischen Staatsorgane wieder aufgelöst. (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 121) Es ist davon auszugehen, dass sich bei der Auflösung der Konflikt in der zentralen Leitung des ADAV widerspiegelte. Fortschrittliche Kräfte der Arbeiter*innenorganisierung gründeten Anfang August 1869 in Eisenach unter der anerkannten Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht die von Karl Marx und Friedrich Engels beeinflusste „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP). Sie entstand damit als Gegenorganisation zum ADAV. 1871 entstand in Nowawes ein Ortsverein der SDAP, sein Vorsitzender war ein gewisser F. L. Resch. (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 123)
Seit den 1860er und 1870er Jahren entstanden in Nowawes große Manufakturen und damit bildete sich eine Arbeiter*innenklasse heraus, die sich wesentlich von den Weber*innen der Hauswebstühle unterschied. Möglich wurden der Zuzug und die weitere industrielle Entwicklung durch die Aufhebung des Verbotes zum Errichten von mehrstöckigen Wohnhäusern und Fabriken (vgl. Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, S. 79). Nach einigen Auseinandersetzungen, ADAV-Mitglieder aus Potsdam hatten am 11. Oktober 1873 sogar versucht, eine Versammlung der Nowaweser SDAP-Ortsgruppe zu sprengen, kam es wieder zu Annäherungen beider Organisationen. „Auf einer gemeinsamen Versammlung der Lassalleaner und Eisenacher am 14. Februar 1875 in Nowawes beschlossen die Anwesenden, alle 14 Tage eine gemeinsame Veranstaltung abzuhalten. Fritz Haburg begründete das u.a. damit, dass ja alle Anwesenden Sozialisten wären, gleich welcher Arbeiterpartei sie angehören würden.“ (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 131)
Als sich SDAP und ADAV im Mai 1875 in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAPD) vereinigte, wurde die Nowaweser SDAP-Gruppe, die 30 Mitglieder zählte, durch Karl Finn aus Berlin vertreten. (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 132) Der zunehmenden Organisierung der Arbeiter*innenbewegung wusste sich die herrschende Politik nur durchzunehmende Verbote zu wehren. Bereits am 29. Mai 1874 war der Arbeiterverein aus Nowawes verboten worden. (vgl. Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, S. 86) Im März 1875 wurde in Preußen der ADAV und im März 1876 die SDAP verboten. Initiiert wurde dieses scharfe Vorgehen gegen Sozialdemokraten und Gewerkschafter durch den Berliner Staatsanwalt Hermann Tessendorf. Diese nach 1874 einsetzende Verfolgungswelle wird zudem als Ära Tessendorf bezeichnet. Fabrikanten mussten politisch tätige Arbeiter*innen entlassen und Gastwirte mussten sich verpflichten, keine Versammlungen der Sozialdemokratie durchzuführen oder sozialdemokratische Borschüren oder Zeitungen auszulegen.
Nach zweijähriger illegaler Arbeit gründeten Sozialdemokraten am 16. Februar 1878 im Reichstagswahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg, zu dem auch Nowawes gehörte, einen „Agitationsverein“. In ihm arbeitete federführend auch der Nowaweser Tapezierer Broseit mit. (vgl. 1000 Jahre Potsdam Teil II, S. 133) Noch konnten einige Versammlungen durchgeführt werden, doch im Herbst 1878 trat das Bismarcksche Sozialistengesetz in Kraft, welches maßgeblich im Schloss Babelsberg entstand und bis 1890 galt. Im Paragraf 1 dieses Gesetzes hieß es „Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten“. Alle politischen Organisationen der Arbeiter*innenbewegung sowie ihre Presse wurden verboten.
Doch die Welle der Organisierung der Arbeiter*innen konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Man organisierte sich zunehmend vom Untergrund aus. Die arbeitenden und politisch tätigen Nowaweser*innen beispielsweise boykottierten die Lokale, in denen die Gastwirte ihnen ihre Betätigung verweigert hatten. Die im Exil erscheinende Zeitung „Der Socialdemokrat“, Hauptorgan der Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes, wurde in Nowawes verteilt, zwischen 67 und 100 Exemplare erhielt die illegale Nowaweser SAPD-Organisation durch Paketsendungen, die schließlich auch in Potsdam verteilt wurden. (vgl. Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, S. 87) Auch in Potsdam und in Nowawes entstanden Tarnorganisationen, wie es zu dieser Zeit üblich war. Sie organisierten sich in Raucherclubs, Lesevereinen oder bei den Naturfreunden.
Nach der Maifeier im Jahr 1890, wenige Monate vor dem Fall des Sozialistengesetzes, bildete sich im Lokal der Witwe Simon der erste Arbeiterchor, der sich „Arbeiter-Maibund“ nannte. Er war einer jener illegal politisch tätigen Vereine. Die Polizei bekam Wind von dem Verein, versucht die Proben zu überwachen und die Wirte erhielten Strafmandate bei der Bereitstellung von Räumlichkeiten. Karl Gruhl stellte daraufhin als Dirigent seine Wohnung für die Proben zur Verfügung. Doch dies ging auch nicht lange gut und sie kehrten wieder in ein Lokal zurück, wo sie schließlich unter Anwesenheit eines Polizisten proben mussten. Unbemerkt von dem Polizisten verteilten die Arbeiterfrauen heimlich Flugblätter an die Gäste des Lokals, während die Männer sangen. (vgl. BNN vom 29.04.1983)
Da in den deutschen Reichstag damals nicht Parteien, sondern Personen gewählt wurden, verblieb der Sozialdemokratie als einzig legale Arbeitsmöglichkeit das Parlament. In den Reichstagswahlen von 1881 gingen linksliberalen Parteien als die größten Gewinner hervor. Aber trotz erheblicher Behinderungen durch die Sozialistengesetze errangen Sozialdemokraten Mandatsgewinne und verbesserten in den folgenden Reichstagswahlen ihre Stimmenanteile (1871 im Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow nicht angetreten, 1874: 1453 Stimmen für Sozialdemokratie und 13% Stimmanteil insgesamt, 1877: 2608 Stimmen mit Anteil von 16.17%, 1878: 4763 Stimmen mit 19,57% Gesamtanteil, 1881: 1265 Stimmen mit 4,55% Gesamtanteil, 1884: 4543 Stimmen mit 14,96% Gesamtanteil, 1887: 8668 Stimmen mit 20,64% Gesamtanteil sowie 1890 in der Stichwahl 22.839 Stimmen mit 44,10% Gesamtanteil). (vgl. Die sozialen und politischen Verhältnisse in der Provinz Brandenburg von 1871 – 1917, S. 66ff.)
Zwar versuchte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck mit Blick auf die Not der Arbeiter*innen und der politischen Sprengkraft der sozialen Gegensätze mittels einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung der sozialistischen Bewegung den Nährboden zu entziehen, doch deren Organisierung war so weit fortgeschritten, dass die Sozialdemokraten reichsweit bei den Wahlen im Jahr 1890 die stärkste Partei wurden. Bei den Reichstagswahlen im Jahr 1893, die der Sozialdemokrat Fritz Zubeil im Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg in der Stichwahl erstmals gewinnen konnte, waren die Nowaweser stark daran beteiligt. Hier stimmten über 73 Prozent für den Sozialdemokraten. (vgl. Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, S. 89) In der Folge entstanden immer mehr Vereine der Arbeiter*innenhilfe und Arbeiter*innenorganisation und bildeten somit den Grundstein für das Rote Nowawes.
Quellen:
Bücher:
Potsdam – Geschichte der Stadt in Wort und Bild, Berlin 1986
Zur Geschichte der Stadt Potsdam von 1789 bis 1871, Potsdam 1968
Die regionale Ausbreitung der frühen deutschen Arbeiterbewegung 1848/49-1860/64, In: Geschichte und Gesellschaft 13, 1987 Göttingen
1000 Jahre Potsdam, Blätter aus der Stadtgeschichte Teil II, Potsdam 1989
Die sozialen und politischen Verhältnisse in der Provinz Brandenburg von 1871 – 1917, Beiheft, Potsdam 1968
Zeitungsartikel:
BNN vom 29.04.1983, H. Wisanowsky, Aus der Stadtgeschichte: „Maibund“ – Ein Arbeiterchor
PNN https://www.pnn.de/potsdam/schwarz-rot-gold-ueber-schloss-sanssouci/21600522.html
Heft:
Deutschland und Europa Nr. 35, 1997: https://www.deutschlandundeuropa.de/35_97/revolut.pdf