Das erste Mal in der fast 300-jährigen Geschichte des alten Nowawes (heute Babelsberg), erhalten öffentliche Plätze oder Straßen Namen von politisch engagierten Frauen der lokalen Arbeiter:innenbewegung. Auf Vorschlag der Geschichtswerkstatt Rotes Nowawes e.V., des Autonomen Frauenzentrums, der Arbeiterwohlfahrt und der Volkssolidarität wird die erste von 7 Frauen, die die Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam in ihren „Benennungspool“ aufgenommen hat, eine Würdigung durch die Enthüllung eines Namensschildes anlässlich ihres 115. Geburtstages am 19.09.2023 auf dem Martha-Ludwig-Platz (Rudolf-Breitscheid-/Ecke Glasmeisterstraße) erhalten. Wir als Bündnis der Initiator:innen hoffen, dass die weiteren Frauen, wie
Olga Bathe,
Gertrud Henkel.
Anna Kamin,
Wally Lehnert,
Anna Müller,
und Friedel Springer
bald folgen werden, zumal wir der Landeshauptstadt schon konkrete Orte der Würdigung im Ortsteil Babelsberg vorgeschlagen haben.
Das Mädchen Krümel – eine Kindheit im Roten Nowawes der 20er Jahre
Als Martha Ludwig 1970 im Verlag Neues Leben Berlin das kleine Kinderbuch „Das Mädchen Krümel“ mit Illustrationen von Karl Fischer (1921 – 2018) herausbrachte, galt sie als unbeschriebenes Blatt – als eine Art Laienschriftstellerin. Erste Schreibübungen konnte sie als Volkskorrespondentin der Märkischen Volksstimme machen, bevor sie als Mitglied im „Zirkel Schreibender Arbeiter“ jenen Mut fasste, einen Teil ihrer Kindheit in Worte zu fassen. Kindheitserinnerungen, die zwar typisch für das Proletenelend so mancher Familie in den Industriestädten Deutschlands der 20er Jahre waren, aber doch zu unspektakulär schienen, um als Kinderbuch aufgeschrieben zu werden. Aber gerade die Lebendigkeit und die starken autobiographischen Züge der Erzählung – so manche politische Überformung der DDR-Geschichtsschreibung nicht übersehend – macht das Kinderbuch zu einem einmaligen Zeitzeugnis einer Kindheit im Roten Nowawes der 20er Jahre, eine Milieustudie mit Seltenheitswert.
Martha selbst wird am 19.09.1908 in der Nowaweser Wilhelmstr. (Alt Nowawes) 26 als Kind des Bauarbeiters Hermann Deinert und seiner Frau Martha Schröder in einer vielköpfigen Arbeiterfamilie geboren. Vater Hermann, aus dem Neumärkischen Topper (Toporów) stammend, verschlug es auf seiner Wanderschaft ins Westhavelland, wo er seine erste Frau Auguste Schröder, die als Magd arbeitete, kennenlernte. Otto, dass erste Kind der Deinerts, der später als Marthas „großer Bruder“, den sie immer bewundern wird und dem sie auch im besagten Kinderbuch ein kleines Denkmal setzt, kommt 1901 noch auf dem Dorfe, in Paaren, zur Welt.
Dem Magd- und Knecht-Dasein bei einem Gutsherrn von Bredow entfliehend, führt es die Deinters nach Nowawes. Aber auch dieser Sprung des jungen Paares in ein neues Leben in einer „Großstadt“ ist nicht auf Rosen gebettet. Hermann als Gelegenheitsbauarbeiter – immer wieder konfrontiert mit Zeiten der Arbeitslosigkeit – kann sich die kinderreiche Familie mehr schlecht als recht über Wasser halten. Auch wird ihre erste Nowaweser Heimstatt im ärmsten Teil der damaligen Gemeinde, in der Luisenstr. (Wollestr.) 53 sein. Die schnell wachsende Familie – 1904 wird das erste Nowaweser Kind der Familie geboren – gebietet auch immer einen erneuten Umzug, wohl wissend, dass das Geld kaum für eine bessere Wohnung reicht. So bleiben die Deinerts lebenslang dem alten, einfachen Wohnungsmilieu verhaftet.
1906 ereilt die junge Familie ein Schicksalsschlag. Mutter Auguste stirbt im Alter von gerade einmal 32 Jahren. Ihre Schwester Martha, die bei den Deinerts schon im Haushalt lebt, wird an die Stelle von Auguste treten und Hermann 1907 heiraten. Mit ihr wird Hermann auch noch eine Reihe weiterer Kinder haben, wie „unsere“ Martha. Vater Hermann gehört wie viele der damals gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu den „Renitenten“ im Roten Nowawes. Als Sozialdemokrat alter Bebelscher Prägung macht er die Burgfriedenspolitik seiner Partei im Ersten Weltkrieg nicht mit und schließt sich den Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) unter Führung von Paul Neumann (1865 – 1923) an. Nach der Entscheidung der (linken) Mehrheit der USPD auf ihrem Hallenser Parteitag 1920 zur Vereinigung mit der kleineren KPD wird er deren Mitglied. Und als hätte die Familie durch Arbeitslosigkeit, Inflation und politisches Bekenntnis nicht schon genügend Bürden zu tragen, stürzt sich Hermann in der ersten Hälfte der 20er Jahre als kommunistischer Gemeindevertreter auch noch in die Nowaweser Kommunalpolitik, wohl wissend, dass seine Partei mit dem „Gemeindeparlamentarismus“ nicht viel anfangen kann oder will. Nach der Stadtwerdung von Nowawes und der relativen Stabilisierung des politischen Systems lässt die Stärke der KPD auch in Nowawes nach und die örtliche SPD wird zur prägenden Kraft fortschrittlicher Kommunalpolitik. Hermann wird nicht ins Rathaus einziehen, bleibt aber als Elternvertreter in der Schule seiner Kinder aktiv. Und seine Ehefrau? Sie muss die wenigen Arbeitsgroschen, die ihr Mann nach Hause bringt, immer wieder umdrehen, um die große Kinderschar tagtäglich durchzubringen. In diesem Milieu – nun in der Karl-Gruhl-Str. 12 – wird „Krümel“, die Tochter Martha, groß. Zwischen dem sich Kümmern um die kleineren Geschwister, um die Mutter zu entlasten, und dem Drang, dem älteren Bruder Otto nachzueifern, wächst sie auf.
Um ein wenig die familiäre Not zu lindern, müssen die Großen ran. Otto als Bäckergehilfe und Krümel selbst als Babysitter bei dem sehr liberal eingestellten Studienrat Dr. Stegemann, einem Vertreter der örtlichen Demokratischen Partei, die einst Walter Rathenau mitgegründet hat. Dieses Erleben gutbürgerliche Lebensformen – trotz aller Fairness und Zugewandtheit der Stegemanns – im Gegensatz zur materiellen Armut der eigenen Eltern weckt in dem Mädchen schon bald ein Gerechtigkeitsgefühl, das ihr Leben zeichnen wird.
Während der große Bruder Otto noch in Kaisers Zeiten den Segen der Konfirmation erhalten wird, haben sich die Zeiten für die Deinerts nach dem Ersten Weltkrieg verändert. Schon zu Beginn der 20er Jahre veranstalten das Gewerkschaftskartell, die Freidenker und die Arbeiterparteien für die nicht mehr religiös gebundenen Kinder zum Schulabschluss eine Jugendweihe. Martha wird dieses Fest 1922 auch erleben. Doch die schmale Haushaltskasse lässt keine großen Sprünge zu. Und dennoch will Krümel festlich gekleidet sein – wie viele ihrer Schulfreundinnen, die in die Kirche gehen. Nur mit Mühe gelingt es den Deinerts Geld aufzubringen. Im Geschäft von Julius Abraham in der Wilhelmstraße ersteht Mutter einen Kleiderstoff, um die 14-jährige Martha ein wenig glücklich zu machen. Bei den Abrahams wird sie von deren Sohn Fritz bedient, der später – weil er Jude ist – mittellos 1939 dem braunen Terror nach Großbritannien entfliehen muss. Ein Stolperstein erinnert heute in Babelsberg auch an Fritz, nicht weit von Marthas Geburtshaus entfernt.
Für die dörfliche Verwandtschaft aus der Neumark, die noch sehr in der Tradition der Kirche lebt, wird die „gottlose“ Familienfeier der Deinerts anlässlich von Marthas Jugendweihe mehr als gewöhnungsbedürftig gewesen sein. Nach dem Fest beginnt aber ein neuer – ein schwerer Alltag für Krümel. Erst 14 Jahre alt muss sie wie viele ihrer Alltagsgenoss*innen in Stellung oder gar in die Fabrik. Ihr Weg wird sie in die Konfektionsfabrik von Adolf Pitsch führen – eine große Fabrik in der Nähe des heutigen Martha-Ludwig-Platzes. Ein Bleiben wird dort jedoch nicht lange sein, obwohl die Familie jeden Groschen braucht. Als der Vorarbeiter gegenüber den jungen Frauen übergriffig wird, wehrt sich Krümel und wird gemaßregelt. Selbst für altgediente Gewerkschafter scheint ein solcher Umgang üblich und tolerabel. Nicht so für Martha!
Die wenige Freizeit, die ihr bleibt, verbringt sie zunehmend im Dunstkreis ihres großen Bruders, der mit seinesgleichen im Kommunistischen Jugendverband organisiert ist. Als eine der Jüngsten im Bunde wird sie erst recht als „Krümel“ behandelt, und dennoch zieht sie es immer wieder zu den jungen Leuten, die sich zwar politisch die Köpfe heiß reden, die aber auch vieles gemeinsam unternehmen, um dem grauen Arbeitsalltag oder der Arbeitslosigkeit zu entfliehen. Sie ist sie auch mittenmang, als sich die Jungkommunisten entschließen, getragen von einem Sendungsbewusstsein und einer gehörigen Portion jugendlicher Naivität im Rahmen einer Landagitation die Landarbeiter auf den Gütern des Petzower Gutsbesitzers von Kähne von einem „roten Paradies auf Erden“ zu überzeugen. Das Ansinnen misslingt – Gutsbesitzer und örtliche Polizei stehen gemeinsam gegen die da aus dem Roten Nowawes. Aber gerade diese Erfahrungen prägen das Weltbild von Krümel, und so ganz nebenbei kommen sich die Jugendlichen auch privat näher. Martha verliebt sich in den gleichaltrigen Maurer Franz Koch, der als gebürtiger Berliner bei seinem Vater, der ein Friseurgeschäft in der Friedrichstr. (Garnstr.) 1 betreibt, lebt. 1929 heiraten beide auf dem Standesamt in Nowawes. Ein Jahr später wird ihr Sohn Heinz geboren. Platz für das junge Paar ist bei den Deinerts in der Karl-Gruhl-Str. 12 jedoch nicht, so dass sie erst einmal in der Luisenstr. (Wollestr.) 37 unterkommen, Tür an Tür mit dem politischen Freund der Familie, dem kommunistischen, später sozialdemokratischen Stadtverordneten Otto Machate (1890 – 1960). Als Anfang der 30er Jahre die Konsumgenossenschaft in der Priesterstr. 5 (Karl-Liebknecht-Str. 10) ein neues Geschäftshaus mit Wohnungen errichtet, hat die 3-köpfige Familie Koch auch die Möglichkeit, ihre Wohnsituation ein wenig zu verbessern. Doch die Zeiten verdunkeln sich. 1932 wird ihr Bruder Otto bei der Polizei denunziert, da er mit anderen Genossen Waffen für den illegalen Rotfrontkämpferbund besorgt und ausprobiert hat. Zwar bewahrt die anschließende Haft ihn vor den direkten Angriffen der Nazis 1933, doch seine junge Familie wird nicht mehr in Potsdam und Nowawes bleiben können.
Als 1933 die Nazis im Bündnis mit den Deutschnationalen auch in Nowawes die Macht übernehmen, Kommunisten und später auch Sozialdemokraten verfolgen, wird auch Marthas Mann Franz von der „wilden SA“, unterstützt vom Charlottenburger Maikowski-Sturm, als stadtbekannter Jungkommunist ergriffen und zusammengeschlagen. Martha wird ihren blutüberströmten Mann aus dem SA-Keller in der Havelstraße abholen „dürfen“. An offenen Widerstand ist so nicht mehr zu denken. Auch wird es Martha und Franz schwerfallen, ihren Sohn Heinz statt in die 1933 von den Nazis aufgelösten Weltliche Schule nunmehr in die gleichgeschaltete Schule in der Priesterstraße (heute Bruno-H.-Bürgel-Schule) zu schicken. Schlimmer noch: wie so viele jungen Männer aus Nowawes/Babelsberg, die aus dem sozialdemokratischen und kommunistischen Milieu stammen, wird auch Franz zur Wehrmacht eingezogen und aus dem mörderischen Krieg nicht zurückkommen. Im März 1945 bleibt Martha mit 37 Jahren mit dem 15-jährigen Heinz alleine zurück. Bis zum Zusammenbruch Deutschlands wird Martha arbeitsverpflichtet und macht Verwaltungsarbeiten im Babelsberger Standesamt. Dabei erfährt sie auch hautnah das Schicksal von jungen Zwangsarbeiterinnen in den Babelsberger Rüstungsbetrieben. In ihrer kleinen Erzählung „Pjotr darf leben“ (Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, 1959) berichtete sie, wie sie hinter dem Rücken ihres braunen Dienstvorgesetzten, einer Zwangsarbeiterin für ihr Neugeborenes eine Geburtsurkunde ausstellte, damit diese der Gefahr entging, dass ihr das Kind weggenommen werden würde.
Das Jahr 1945, das Jahr der Befreiung, wie es zumindest die Deinerts herbeigesehnt haben, trifft Martha jedoch mit aller tragischen Wucht. Nicht nur ihr Mann kehrt nicht wieder aus dem Krieg zurück, sondern auch ihr Vater Hermann, der Alt-Kommunist, verliert sein Leben am Tag der eigentlich weitgehend kampflosen Übergabe Babelsbergs an die Rote Armee. Trotz der Warnungen seiner Frau geht er vom Haus in der Karl-Gruhl-Straße hinauf zu seinem Garten in der Kleingartenkolonie „Freie Scholle“, um seine Tiere zu füttern. Zwar ist der Geschützdonner zu hören und drüben in Potsdam wird tagelang noch heftig gekämpft, aber Hermann fühlt sich auf der sicheren Seite. Doch auf der Insel Wannsee, in Klein Glienicke und im nördlichen Teil des Parks Babelsberg stehen noch Wehrmachtseinheiten, die noch 5 Minuten nach 12 die Waffen nicht strecken wollen. Augenzeugen berichten, wie Hermann, dem Befehl sowjetischer Soldaten – seiner Befreier – folgend, einen LKW besteigt und mit seiner Ortskenntnis den Weg hoch zum Babelsberg weist. Wo noch geschossen wird. Er wird an diesem Tage nicht mehr zurückkehren…
Für Martha und ihrem Sohn Heinz wird ein Neuanfang nach Jahren der braunen Herrschaft nicht einfach. Dennoch fühlt Sie sich – wie nur wenige in dieser Zeit – als Sieger der Geschichte, wenn auch der Verlust von Mann und Vater kaum zu ertragen ist. Doch irgendwie muss es weiter gehen und die Deinerts sind in Babelsberg wohlbekannt und unter den neuen Machtverhältnissen ganz anders geachtet. Man braucht für den neuen, antifaschistischen Aufbau jede Hand. Viele Hände, auf die sich die neuen Besatzer verlassen können, sind nicht verfügbar nach Jahren der Nazi-Herrschaft.
Radikal beginnt man noch im Mai 1945 Schulen, Polizei, Justiz und Verwaltung von kleinen und großen NSDAP-Mitgliedern zu säubern. Bis fast nur noch Leere bleibt. Neulehrer werden gesucht, aber auch Justizangestellte für ein neues Deutschland. Martha, ausgestattet mit Verwaltungserfahrung, entscheidet sich für das Wagnis, Volksrichterin zu werden, ohne jemals vorher ein Gericht betreten zu haben. In einer Art „Schnellbesohlung“ nimmt sie an einem Lehrgang der gerade erst eingerichteten Richterschule im Schloss Babelsberg teil und tritt nach erfolgreicher Absolvierung in den Potsdamer Justizdienst ein. Ihre Mitgliedschaft in der wieder zugelassenen KPD und dann in der SED ist aufgrund ihrer Biographie für sie geradezu zwangsläufig.
Auch ihre Wohnbedingungen werden sich weiter verbessern. Am 21.4. 1947 wird sie Mitglied der Wohnungsbaugenossenschaft GEWOBA, die in DDR-Zeiten auch einmal den Namen des alten Kampfgefährten ihres Vaters „Paul Neumann“ tragen wird, und zieht in den Blumenweg 32, später in eine Genossenschaftswohnung in der Althoffstr. 2 ein. 1956 heiratet Martha dann den Berliner Elektroingenieur Karl Ludwig und zieht das erste Mal in ihrem Leben aus dem Dunstkreis des alten Nowawes weg – hoch an die Hänge des Babelsbergs in ein ehemaliges Gagfahhaus in der Filchnerstr. 56. Sohn Heinz wird Berliner und arbeitet als Chemielaborant an der Humboldt Universität. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes verlebt sie ihre letzten Jahre, umsorgt von Verwandten, in einer Neubauwohnung am Stern. Zeitgenossen beschreiben Martha als eine bescheidene, aber auch lebenslustige Frau, die noch im hohen Alter gerne auf Reisen ging. Die neu gewonnen Reisefreiheit wird sie aber nicht darüber hinwegtrösten, dass der Versuch, einer neuen gerechteren Gesellschaft in dem kleineren Teil Deutschlands, an der auch sie und viele Mitglieder der Deinert-Familie mitgewirkt haben, gescheitert ist. Am 24.7.1992 vollendet sich das Leben des „Mädchen Krümel aus dem Roten Nowawes“.