Um die Geschichte des Roten Nowawes verstehen und im gesamten zeithistorischen Kontext einbetten zu können, müssen wir einen Blick zurück zur Gründung der Weberkolonie werfen. König Friedrich II. erteilte 1750 den Befehl, eine Kolonie von Webern auf einer Sandscholle vor dem Teltower Tor zu gründen. Das gesamte Gebiet gehörte zu dem königlichen Forst und war von der Feldmark Neuendorf, dem 1375 erstmalig erwähnten Angerdorf nahe der Nuthe, umschlossen. Planungshoheit bei Bau und Ansiedlung der Kolonisten bekam der damalige Potsdamer Stadtkommandant General Wolf Friedrich von Retzow. Bereits 1753 gab es in der Ortschaft 150 bescheidene Fachwerk-Doppelhäuser, in denen zumeist böhmische Spinner und Weber wohnten, die hauptsächlich wegen ihres protestantischen Glaubens und der Gegenreformation ihre böhmische Heimat verlassen mussten. (vgl. Nowawes im Übergang von der handwerklichen zur industriellen Produktion, S. 11-13)
Die ersten Straßen, um die sich die Weberkolonie formierte, waren die Alte Lindenstraße (jetzt Rudolf-Breitscheid- und Benzstraße), die Priesterstraße (jetzt Karl-Liebknecht-Straße) und die Waldstraße (später Wallstraße, heute Karl-Gruhl-Straße). Damit bildete sich um den Kirchplatz (Weberplatz) ein dreieckiges Ortszentrum. (vgl. 250 Jahre Weberkolonie Nowawes/Babelsberg, S. 29) Zu jedem der eingeschossig erbauten Zwei-Familien-Häuser gehörte der Straße nach hinten abgewendet Gartenland. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurden vorwiegend Bauhandwerker aus der Schweiz, aus Württemberg und Nassau angeworben und in der für sie erbauten Neuen Lindenstraße (heute Alt Nowawes) angesiedelt. 1780 lebten schon 1.500 Menschen im Ort.
Dabei war das Werben von Fachkräften alles andere als leicht und konnte erst durch bestimmte Zugeständnisse bzw. durch Befreiungen von sonst üblichen Belastungen geschehen. Veränderungen in der Produktionsweise der Textilherstellung von der Einzelweberei über das Verlegerwesens, der Manufaktur hin zur industriellen Produktion und einer verschärften Kostenkonkurrenz führten in der Folgezeit zu prekären Arbeits- und Einkommenssituationen der eher traditionell produzierenden Weberei. Armut und Hunger waren ein ständiger Begleiter und sorgten bereits Ende des 18. Jahrhunderts zu ersten spontanen Aktionen gegen die Willkür der Manufakturbesitzer. (vgl. Zur Geschichte der Weber und Spinner von Nowawes, S. 28)
Die Unruhen am 11. Dezember 1785 wurden in einem Kammerbericht sogar als „öffentlicher Aufstand“ bezeichnet. Dem Weber Wentzel Wessely, der sich den Reglements des Manufakturbesitzers Wolff und den königlichen Anordnungen widersetzte, drohte man mit Gefängnis auf der Feste Spandau, seine Garnvorräte wurden konfisziert und er floh. (siehe: Neuendorf-Nowawes-Babelsberg, S. 38) August Wichgraf, Königlicher Regierungsrat, machte sich zwar um die sozialen Belange der Weber verdient, konnte aber letztlich nur wenig Verbesserungen durchsetzen. In seiner 1862 erschienenen „Geschichte der Weber-Colonie Nowawes“ schrieb er: „Vor den Thoren Potsdam’s, der zweiten Residenzstadt des Preußischen Staates, und am Fuße des von Sr. Majestät dem König bewohnten Babelsberges liegt, im traurigen Contraste zu dem Sitz des höchsten Glanzes und Reichtums, die Colonie Nowawes, ein armes Weberdorf…“, in der nur Not und Elend herrschte und in Zeiten des Stillstandes die Weber als Bettler auf dem Lande und den benachbarten Städten umherzogen. (siehe: Geschichte der Weber-Colonie Nowawes…, S.1)
Dem Elend der Weber*innen etwas entgegenzusetzen war das Ansinnen des königlichen Verwaltungsbeamten August Wichgraf, der eine Weberschule gründete. Der zunehmende Bedarf nach einheimischen Textilprodukten nach der Reichseinigung 1871, aber auch der Stadtrandwanderung bisheriger Berliner Industrie in Richtung Südwesten führte z.B. mit der Mechanischen Jute- und Hanfweberei von Louis Nathan, der Deutschen Jutespinnerei und Weberei, der Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei und der Seidenweberei Michels & Cie. zu neuen Investitionen, die aufgrund der Enge der Nowaweser Kolonie vor allem auf Neuendorfer Gemarkung realisiert wurden. Mit der Ansiedlung der Lokomotivfabrik von Orenstein & Koppel 1898 an der Neuendorfer Ahornstr. am Bahnhof Drewitz wurde der traditionelle Industrialisierungspfad verlassen und die metallverarbeitende Industrie zum Hauptarbeitgeber der nächsten Jahrzehnte.
Diese Umwälzungen in der Arbeitswelt der Neuendorfer*innen und Nowaweser*innen führten auch zu einer stärkeren Politisierung der Arbeiter*innenschaft im Gegensatz zum bürgerlich-konservativ geprägten Potsdam. Die Sozialdemokratie und die mit ihr eng verbundene Gewerkschafts-, Konsum-, Arbeiterkultur- und Arbeitersportbewegung wurde in der Kaiserzeit zu einer zunehmenden und kampfstarken Kraft in der täglichen Auseinandersetzung um Arbeit und Leben in Nowawes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt prägte sich auch die Begrifflichkeit des „Roten Nowawes“ – auch gegenüber dem „Schwarzen“ (d.h. kaisertreuen, monarchistischen und militaristischen) Potsdam, wo es bis auf das RAW kaum Industriebetriebe gab.
Die Sozialdemokratie und innerparteilichen Auseinandersetzungen im 1. Weltkrieg und in der nachrevolutionären Zeit führten zu einer breiten Auffächerung der Farbe „Rot“. Dennoch blieb Nowawes, trotz allen zum Teil auch scharf ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Arbeiterparteien, bis 1933 zu einer weitgehenden Hegemonie linker Kommunalpolitik. Neben der Kommunalpolitik prägten soziale Proteste und unzähligen Streiks den Alltag. Erwähnt sind hier unter anderem die Aktionen im Kontext der Novemberrevolution oder zur Niederschlagung des Kapp-Putsches, aber auch die sogenannten Teuerungsunruhen wegen der Erhöhung der Lebensmittelpreise oder die zahlreichen antifaschistischen Agitationen in den 1930er Jahren gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Hegemonie auch in Nowawes den Aufstieg der Nazis nicht verhindern konnte, auch wenn sie bis 1933 politisch nicht selbst in Erscheinung traten.
Das gemessen an ihren Bauern relativ reiche Neuendorf und das arme, aber größere Nowawes, vereinigten sich 1907 zur Landgemeinde Nowawes im Kreis Teltow. Der Ort erhielt am 1. April 1924 das Stadtrecht. Im Jahre 1938 wurde Neubabelsberg, die ab 1871 entstandene Villenkolonie, eingemeindet, bei gleichzeitiger Umbenennung der gesamten Stadt in Babelsberg. Den Nationalsozialisten war der Name nicht Deutsch genug, auch der Mythos des Roten Nowawes, der Unruheherd mit seiner starken Arbeiter*innenbewegung, wird vermutlich ausschlaggebend für die Umbenennung gewesen sein. 1939 ging der Ort im Stadtgebiet Potsdam auf.
Die sozialen und politischen Gegensätze innerhalb der Nachbargemeinden Neuendorf, Nowawes und Neubabelsberg, aber vor allem die grundsätzlich verschiedene historische und sozioökomische Entwicklung zwischen Nowawes und Potsdam, hier Industriestandort, dort preußische Königsresidenz und Garnisonstadt, sind wesentlicher Bestandteil der Forschungen der Geschichtswerkstatt Rotes Nowawes.
Quellen:
Geschichte der Weber-Colonie Nowawes bei Potsdam, Berlin 1862
Zur Geschichte der Weber und Spinner von Nowawes 1751-1785, Potsdam 1965
Neuendorf-Nowawes-Babelsberg, Stationen eines Stadtteils, Horb am Neckar 2000
250 Jahre Weberkolonie Nowawes/Babelsberg, Potsdam 2000
Nowawes im Übergang von der handwerklichen zur industriellen Produktion (1810-1907), Potsdam 2009