Die Geschichtswissenschaft ist eine Wissenschaft, mit klaren wissenschaftlichen Grundregeln. Und doch wird sie immer wieder von der Politik benutzt und auch missbraucht.
Am Beispiel unseres Ortes Nowawes wird das sehr deutlich.
1962 – also vor genau 60 Jahren – war in der Zeitung „Potsdamer Blick“ ein Artikel von Joachim Schobeß zu lesen, den wir hiermit wieder der Öffentlichkeit zukommen lassen möchten. Der Artikel belegt, wie staatlich gelenkte Erinnerung zu DDR-Zeiten aussah und welche Rolle damals die „Heimatgeschichte“ politisch spielte.
Während in der Zeit des Nationalsozialismus die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus keine Rolle spielte, ja gar getilgt und die „roten“ Arbeiter:innen und Widerstandskämpfer:innen gegen das NS-System verfolgt und ermordet wurden, kam mit der DDR und ihrem politischen System eine Zeit, in der die Erinnerung des NS-Widerstands und der Arbeiter:innenbewegung staatlich gefördert und gewünscht war. Schließlich wollte die DDR auf diesen Traditionen aufbauen. Antifaschismus war ein wichtiger politischer Teil des sozialistischen Staatssystems.
Auf unser Nowawes bezogen wurde in der lokalen Geschichtsforschung und Erinnerungspolitik – wie in der DDR-Geschichtswissenschaft überhaupt – eine traditionelle Linie vom Beginn der organisierten Arbeiter:innenbewegung bis hinein in die DDR-Zeit gezogen. Das spiegelte sich in vielen Artikeln der lokalen Tageszeitungen wider, wurde in betrieblichen Arbeitskreisen und anderen Geschichtszirkeln forciert. Später entstanden daraus unter anderem die Traditionskabinette in den Großbetrieben.
Heute nunmehr spielt die Nowaweser Geschichte in der aktuellen Erinnerungs- und Gedenkpolitik keine Rolle. Im Mittelpunkt der städtischen Geschichte stehen vor allem das preußische Erbe und die Auseinandersetzung um und das Gedenken an die beiden Diktaturen. Vergessen scheinen die Arbeiter:innenbewegung und das Rote Nowawes.
Deshalb ist heute Geschichtsaufarbeitung „von unten“, unter anderem in Geschichtswerkstätten wie die unsere, so wichtig. Wir versuchen, der Geschichte unseres Kiezes so nahe zu kommen wie möglich. Nicht staatlich gelenkt, sondern von unten aus der Basis heraus, parteiübergreifend und ehrenamtlich, natürlich auf Basis der Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft. Damit wollen wir das Andenken an das Rote Nowawes wachhalten. Wir wollen Geschichte hautnah zeigen, sie nicht gebrauchen. Dazu brauchen wir aber die Hilfe der Öffentlichkeit. Jedwedes persönliche Erinnerungsstück, das Nowaweser Geschichte zeigt, Fotos, Tagebücher usw. können uns dabei helfen.
Anbei der Artikel:
Aus der Heimatgeschichte
Das Rote Nowawes
Im Plan des Neuaufbaues unserer Stadt ist bewusst die enge Verbindung Potsdams mit Babelsberg vorgesehen. Bekanntlich bestand in der Vergangenheit zwischen der Militär- und Beamtenstadt Potsdam und der Proletariersiedlung Nowawes, bedingt durch die frühere Klassenteilung der Gesellschaft, eine eindeutige Trennung, die durch die Wasserscheide der Havel noch besonders unterstrichen wurde.
Das heutige Babelsberg ist aus dem armen Weberdorf „Böhmisch-Neudorf“ oder tschechisch „Nowa-Wes“ hervorgegangen. Die evangelischen Weber mussten aus Gründen religiöser Verfolgung die alte Heimat verlassen. Als sie 1751 bei Friedrich II. um Obdach und Asyl baten, suchte er nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus rein wirtschaftlichen Zweckgründen „dazu selbst eine sandige und unfruchtbare Stelle aus, um so die wüsteste und ödeste der Gegenden, welche die Königsresidenz umgaben, bebauen zu lassen“. Am 16. September 1751 gab es in der Kolonie 60 „böhmische“ Familien, die eine sandige Feldmark von etwa 170 Morgen bebauten. Sie erhielten gewisse Privilegien, z.B. Steuerfreiheit, freies Brennholz und als unentbehrliche Fachleute Befreiung vom Soldatendienst. Die Einwanderung erfolgte dennoch sehr spärlich. 1759 zählte der Ort nur 861 Seelen. Die Einwohner beklagten sich über den dürren Flugsandboden, der keine Gartenfrüchte hervorbrachte. An Viehhaltung war nicht zu denken.
Mit der späteren Industrialisierung wurden die Weber moderne Lohnsklaven. Nowawes zählte 1861 etwa viertausend Einwohner. Immer wieder herrschte infolge der Krisen und Fabrikstilllegungen langanhaltende Arbeitslosigkeit, so dass die Nowaweser Weber und Arbeiter ihr Leben als Bettler auf dem flachen Lande fristen mussten. Die soziale Not und das Hungerdasein der um die nackte Existenz ringenden Nowaweser stand in einem traurigen Gegensatz zu dem Prunk der Hofgesellschaft in Potsdam und Sanssouci. Während vor den Toren der „Residenzstadt“ ausgemergelte Proletarier ihren Kindern kaum ein Stückchen Brot reichen konnten, prasste die Oberschicht in „Saus und Braus“. Das Potsdamer Bürgertum hatte seine historische Aufgabe verraten und sich mit dem Königtum und seiner von Junkern geführten Armee verbündet.
Die Nowaweser Weber und Arbeiter gehörten zu den zuverlässigsten Kämpfern des revolutionären Demokraten Max Dortu 1848/49. Die „Potsdamer Bürgerwehr“ griff gegen die demonstrierenden Arbeiter und Weber ein. So trifft auch für Potsdam die Feststellung von Friedrich Engels zu: Die Bourgeoisie erkaufte ihre allmähliche gesellschaftliche Emanzipation mit dem sofortigen Verzicht auf eigene politische Macht. Natürlich ist der Hauptbeweggrund, der für die Bourgeoisie einen solchen Vertrag annehmbar macht, nicht die Furcht vor der Regierung, sondern die Furcht vor dem Proletariat.“
Siebzig Jahre später konnte die Bourgeoisie mit dem inzwischen organisierten Nowaweser Industrieproletariat nicht mehr so umspringen. Unter dem Eindruck der furchtbaren Blutopfer an den Fronten des Krieges und dem Fanal der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wurden im Dezember 1917 in dem Werk Orenstein & Koppel Flugblätter revolutionären Inhalts verteilt. Im Januar 1918 traten 1400 Arbeiter dieses Werkes in den Streik gegen den imperialistischen Krieg. Aus dem kapitalistischen Betrieb Orenstein & Koppel ist heute das volkseigene Karl-Marx-Werk geworden, das industrielle Herz unserer sozialistischen Stadt.
Joachim Schobeß
(Zeitung: Potsdamer Blick, 3. Jahrgang, Nr. 4, 26. Januar 1962)