100 Jahre Weltliche Schule Nowawes

Ob sie wohl gelingen wird, war so manchem Pädagogen und Politiker am Sonntag, dem 23.4.1922 noch nicht klar. Als die Schüler das Gebäude der bisherigen 5. Gemeindeschule betraten,wusste sie kaum, dass nun nicht nur ein neues Schülerdasein begann, sondern sich dieses auch erheblich unterschied von dem ihrer Altersgenossen. Aber nicht nur für die Nowaweser war dies eine bildungspolitische Zeitenwende. Schließlich war man hier in Nowawes (seit 1938 Babelsberg, seit 1939 Potsdam-Babelsberg) die erste, jener amtlich „Sammelschulen“ genannten Volksschulen mit Lebenskunde- statt Religionsunterricht in der gesamten Provinz Brandenburg, jenseits der Reichshauptstadt Berlin.

Aber warum gerade hier in dieser 25.000 Seelen Gemeinde, die mit ihren Textilfabriken und ihrer Lokomivfabrik doch so anders war als die konservativ-monarchistisch geprägte Militär- und Beamtenstadt Potsdam auf der anderen Seite der Havel?

Schon in der Kaiserzeit entwickelte sich bei der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft im Dunstkreis des Freidenkertums eine starke emanzipatorische Strömung der Kirchenaustrittsbewegung. War bis hinein in das Familienleben der zumeist sehr armen Weber und Industriearbeiter die evangelische Friedrichskirchgemeinde (Nowawes) und Bethlehemkirchgemeinde (Neuendorf) prägend für den soziokulturellen Zusammenhalt, so brach sich insbesondere nach Aufhebung der Sozialistengesetze der freiheitlich Anspruch auf weltanschauliche Selbstbestimmung in der Nowaweser Sozialdemokratie und ihren Organisationen Bann. Dabei ging es nicht nur und nicht immer um die Ablehnung jeglicher Religion, sondern v.a. auch die Brechung der Dominanz der preußischen Staatskirche bei der Alltagsbewältigung des Arbeiterlebens. So wurden Taufen in der stark politisierten Arbeiterschaft während und erst recht nach dem 1. Weltkrieg immer seltener. Bekanntlich gab es bis zur Revolution 1918/1919 keinerlei Schulangebot jenseits der tradierten Volksschule evangelischer Prägung in Nowawes.

Mit dem Weimarer Schulkompromiss vom August 1919 sollte sich die bildungspolitische Situation für die Vielzahl von „Dissidenten“-Familien auch in Nowawes ändern. Auch dort wurde die Möglichkeit eröffnet, Kinder aus diesen Familien in eigenständigen Schulen zu „sammeln“ (daher Sammelschule), die radikal die Trennung von Kirche und Staat in der Schullandschaft vollzogen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass letztendlich nur ca. 20% der Nowaweser Bildungshungrigen durch die Entscheidung ihrer Eltern, die weitestgehend dem sozialdemokratisch-sozialistisch-kommunistischen Arbeitermilieus entstammten, die Chance bekamen, eine neue Art von Pädagogik zu erleben. Der größere Teil der Kinder aber blieb der Bildungsweg in den „normalen“, weiteren 4 Volksschulen – getrennt nach Mädchen und Jungen – mit obligaten Religionsunterricht vorbehalten.

Aber warum begann das radikale Bildungexperiment „Weltliche Schule“ gerade in Nowawes und dann noch als erstes in ganz Brandenburg?

Schüler*innen der Weltlichen Schule mit Lehrer Richard Schaffrath 1931; Slg. Klett

Die unübersehbare „Affinität“ vieler Elternhäuser (zumeist der Väter als Familienvorstände) zum Weltlichen alleine wäre nicht ausreichend gewesen, eine Weltliche Schule auf den Weg zu bringen.

Als Katalysator kam sowohl die Berlinnähe als auch eine besondere politische Konstellation in der nachrevolutionären Zeit in der Gemeinde hinzu. Nowawes, bis 1939 zum Landkreis Teltow gehörig (und damit politisch-administrativ völlig von Potsdam getrennt) hatte immer schon eine starke Berlinausrichtung. Man las in den sozialdemokratisch orientierten Arbeiterkreisen eher den Berliner „Vorwärts“, als die „Brandenburgische Zeitung“und war parteipolitische bis 1920 direkt mit den“Aufmüpfigen“ aus Neukölln und Schöneberg in einem Wahlkreis verbunden. Der Einfluss der dortigen Schulreformbewegung wird auch bei einem kleinen Teil der Nowaweser Lehrerschaft Spuren hinterlassen habe. Einige der späteren Lehrer der Weltlichen Schule haben auch in Berlin ihre ersten pädagogischen Sporen verdient.

Darüber hinaus kam es in Nowawes fast im Einklang zur Reichshauptstadt zu einem merklichen Aufbegehren gegen den Krieg und den Hunger auf den Straßen und in den Familien der Industriearbeiter. Streikwellen 1917 und 1918, die von Berlin ausgingen, erfassten auch schnell das schon damals „Rote Nowawes“. Die Etablierung einer neuen sozialdemokratisch-revolutionären Friedenspartei, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), ab April 1917 stieß auch bei der organisierten Arbeiterschaft in Nowawes auf fruchtbaren Boden. Jene Sozialdemokraten, die der von Ebert und Scheidemann getragene Burgfriedenspolitik folgten, kamen in Nowawes zunehmend in die Minderheit. Die großen Gewerkschaften der Metaller und Textilarbeiter wurden von der USPD dominiert und auch die ersten freien Kommunalwahlen im Frühjahr 1919, an denen erstmalig auch alle Frauen teilnehmen konnten, erbrachten einen grandiosen Sieg der Linkssozialisten, die zusammen mir der kleineren Ebert-SPD in der Gemeindevertretung die absolute Mehrheit hatten.

Eine neue Zeit schien anzubrechen, auch eine radikale Schulreform war Tagesaufgabe. Der unbestrittene Nowaweser USPD-Führer Paul Neumann und seine Genossen ergriffen die historische Chance, schneller und radikaler als dies in anderen Industriestädten der Provinz Brandenburg geschah. Der erwähnte „Schulkompromiss“ schien das Tor zu öffnen, wenn auch nur einen Spalt breit. Sicherlich hatte man mehr politische Programme als tatsächliche Umsetzungskonzepte, schon gar nicht konnte man in Nowawes auf ein eine breite Phalanx pädagogischer Reformer zurück greifen.

Aber das politische Projekt einer Weltlichen Schule sollte und musste gelingen, „immer der Zukunft zugewandt…“

Priesterstraße mit Schule; Gruß aus Potsdam, Kunstverlag J. Goldiner, Berlin C. 25.

Mag ein gehöriger Mut und Aktionismus an den Tag gelegt worden sein, um den „bürgerlich-kirchlichen“ Widerstand klein zu halten und v.a. ausreichend Eltern zu finden, die für ihrer Kinder das Wagnis eingingen, etwas völlig Unbekanntes zu wagen. Doch dem Beispiel der ersten Berliner Sammelschulen folgend, ging die sozialistisch geprägte Gemeindevertretung voran – ohne Netz und doppelten Boden. Mit den vorhanden, meist kaisertreuen Volksschullehrern war zwar nicht viel Staat für diese neue Bildungseinrichtung zu machen, aber man hatte ja keine anderen! Nach 1933 gaben so einige dieser Lehrer – unter den neuen ideologischen Vorzeichen – zu Protokoll, auch nicht wirklich eine weltliche Schule gewollt zu haben.

Dass die Schule in der Priesterstr. 24 (heute Karl-Liebknecht-Str. 29; in der DDR POS 16 „Bruno H. Bürgel“, heute Grundschule „Bruno H. Bürgel“) dennoch 1922 – 1933 ein neue Lebenswirklichkeit pädagogisch bot, ist vor allem dem Lehrer der Schule, zugleich politischen Aktivisten (USPD, ab 1922 wieder SPD), Gemeindevertreter und späteren unbesoldeten Stadtrat Bruno La Grange zu verdanken. Nicht etwa die Rektoren Reinhold Kuschel und Hans Richter waren die Antreiber der Weltlichen Schule, sondern der aus Berlin stammende, in Nowawes schon seit 1912 als Lehrer tätige La Grange (1882 – 1932).

Die Tatsache, dass Kinder aus zumeist ärmeren Familien dem bildungspolitischen Zugriff der preußischen Staatskirche entzogen und gar teilweise in gemischten Klassen unterrichtet wurden, stieß immer wieder auf entschiedene Gegenwehr „bürgerlicher Kreise“ und Unverständnis und Ablehnung bei einem Teil der Arbeiterschaft. Wenn auch das 1907 errichtet Schulgebäude vergleichsweise modern war, lag es doch eher in jenem Teil der Gemeinde nördliche der Eisenbahnlinie, wo mehrheitlich arme Proleten und Arbeitslose wohnten. Zwar war sie damit eine Milieuschule der kurzen Wege, aber es mangelte ihr, wie La Grange einmal später feststellte, an jenen Schülerschichten, die eher aus den Mittelklassehaushalten kamen. Auch das bekannte Phänomen, Schüler beim Scheitern auf den anderen Volksschulen an der Sammelschule aufzunehmen, wurde kritisch bilanziert.

Und dennoch war die Weltliche Schule nicht nur eine Bildungseinrichtung, die Zukunft probiert. Es war DAS politische Projekt der linken Arbeiterparteien und ihrer Vorfeldorganisationen in der damaligen Zeit. Ob Gewerkschaften, AWO, ASB, Arbeitersportvereinen, Arbeiterchöre, Kinderfreunde, aber auch die Rote Hilfe: alle gaben oft ihr letztes Hemd für die Ausstattungen der Schule und die soziale Fürsorge für die Schüler. In den ersten Jahren ihres Bestehens waren die Räume der Schule auch Treffpunkt der politischen Arbeiterjugend, bevor diese die Räume der neu errichteten Jugendherberge am Sportplatz nutzen konnte.

Auch wurde die Schule der Kristallisationspunkt einer lebendigen proletarischen Jugendweihetradition, deren Träger das örtliche Gewerkschaftskartell und das Arbeiter-Sport- und Kulturkartell in Zusammenarbeit mit dem Freidenkenverband waren. Auch hier war Bruno La Grange nicht nur Inspirator sondern auch Organisator und bot Jugendweihekurse an.

Ein eher düsteres Kapitel auch für dieses bildungspolitisch-revolutionäre Projekt ging einher mit dem verschärften Bruderkrieg zwischen SPD und KPD Anfang der 30er auch in Nowawes. Für die einen war die Sammelschule der Einsteig in eine Bildungsreform in Preußen, für die anderen eine unzumutbare Insellösung. Ausgelöst aus Dissonanzen in der nicht durchgängig „weltlichen“ Lehrerschaft der Schule, wurde eine politische Schlacht zwischen den Arbeiterparteien geschlagen, die den Konservativen im Provinziallandtag vom „marxistischen Schulskandal in Nowawes“ zu sprechen ermöglichte. Auch persönliche Verletzungen unter den linken Kontrahenten blieben nicht aus.

Unstrittig ist, dass der zugespitzte Kampf gegen den aufkommenden Faschismus (der bis 1933 in Nowawes aber kein Bein auf den Boden bekam), oft von – aus heutiger Sicht unerträglichen Anfeindungen von Sozialdemokraten und Kommunisten gegeneinander überwölbt wurde. Das Familienleben der proletarischen Milieus blieb davon nicht unberührt. So verwundert es auch nicht, dass die Kinder aus diesen politisch aufgeladenen Milieus ihre „frischpolitischen“ Erfahrungswelten mit in die Schule brachten und somit auch die Lehrerschaft oft überforderten. Auch die sehr aktive Elternvertretung und Leitung des Gewerkschafters und Sozialdemokraten Hans Kohl zerfiel zunehmend in ein gegensätzliches parteipolitisches Fahrwasser. Letztendlich sah sich die Schulaufsicht genötigt, einige der Protagonisten der innerschulischen Auseinandersetzungen unter der Lehrerschaft zu versetzen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Schule unter schwierigsten materiellen und personellen Bedingungen, aber mit einer großen Unterstützung der politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft für einen Teil der Nowaweser Kinder nicht nur eine andere Art von Schule versuchte, sondern auch im Freizeitbereich eine starke naturbezogene und musische Entwicklung der Schüler beförderte.

Mit der Machtübernahme der Nazis und ihrer „bürgerlich-nationalkonservativen“ Gesinnungsgenossen auch in Nowawes, ging die Geschichte der weltlichen Schule und ihrer Lehrer und Schüler abrupt zu Ende. Schon am 25. Februar 1933 wurde per Erlass für Preußen die Auflösung der weltlichen Schulen und das Verbot des Lebenskundeunterrichts verfügt. Auf diese Chance haben die neuen „Braunen“ und bisher in der Minderheit agierenden alten „Schwarzen“ im „Roten Nowawes“ nur gewartet.Von einem großen Demonstrationszug, angeführt von einer SA-Kapelle, berichtet die konservative Potsdamer Tageszeitung im März 1933:

Die friedliche Erstürmung der roten Schulburg in der Priesterstraße, von der heute früh die frische Jugend … für alle Zeiten Besitz ergriffen, war mehr als ein Akt tiefer symbolischer Bedeutung. Der Zusammenbruch der weltlichen Schule in Nowawes wird alle die mit heißer Genugtuung erfüllen, die seit Jahren wehen Herzens erlebten, welcher Ungeist hier gepredigt, welche Jugend hier herangezogen wurde… Der (NSDAP) Stadtrat Pichottka hielt dann eine eindrucksvolle Ansprache, in der er darauf hinwies, dass nunmehr in das Haus, in dem Internationalismus, Marxismus und Religionslosigkeit geherrscht habe, neuer Geist einziehen werde. In dieser Schule werden die Kinder zu deutschen Männern erzogen.“

Der aus diesen Zeilen sprechende Hass ist auch ein Zeugnis für die Gefährlichkeit einer Schulform, die 1922 ein neue lebenskundliche Bildung wagte.

Ihr Inspirator und Mitgestalter, Bruno La Grange, erlebte ihren Untergang nicht mehr. Er starb 1932. Andere Lehrer wurden aus politischen Gründen entlassen oder an andere Schulen strafversetzt. Und andere hatte ja von alledem nichts gewusst…